Das Calancatal – im Fluss der Zeit
Wer länger an einem Ort verweilt und klar hinschaut und hinhört, begreift es unweigerlich: Panta rhei, alles fliesst. Diese heraklitische Formel gilt auch für die (Kultur-)Landschaft, ja, für das Leben im Calancatal. Eine, die diese Erkenntnis in ihrer betörenden wie auch beglückenden Tiefe wahrgenommen hat, ist die ehemalige Gemeindepräsidentin von Cauco; das Wort hat Sabina Spinnler*.
Aus der Schlucht am Eingang zum Calan-catal breitet sich vielfältiger Laubwald bis hinauf zu der hohen Ebene von Giova aus. Seine herbstliche Farbenkraft ist in ihrer Intensität atemberaubend. Auf den Sonnenter-rassen gegenüber versprechen mächtige Kasta-nienbäume reiche Ernte. Im hinteren Tal ist das Klima zu rauh für die mediterrane Vegetation. In früheren Notzeiten erwarben die dortigen Bewohner das ‚Brot der Armen’, wie die Kasta-nien auch genannt wurden, durch Tauschhan-del oder nach dem Verkauf eines Kalbs.
Auf den Alpen hinten im Tal verabschiedet sich der Herbst mit ersten Frostnächten. Kühe, Ziegen und Schafe sind in die Dörfer zurückgekehrt, das Hochgebirge dem Wild überlassen. Und den Jägern. 1881 wurde der letzte Bär erlegt. Im Mai 2020 soll bei Saludine der erste Wolf gesichtet worden sein.
Wem gehört die Landschaft?
Ferienkinder haben im Ufersand der Calan-casca Dämme gebaut und Wasser zu einem Seelein umgeleitet. Den Sog des Wassers vor-übergehend angehalten – und die Zeit.
Vor 500 Jahren verursachte der verheerende Bergsturz von Rüghel bei Cauco eine Talsperre, die das Wasser der Calancasca aufhielt und einen See bildete, der wohl etwa 200 Jahre bestehen blieb. Bis die unbändige Kraft des Wassers den Damm durchbrach und vielseitig begehrtes flaches Land zurückliess. Schliess-lich ist auf dem sandigen Boden eine sanfte Auenlandschaft von nationaler Bedeutung entstanden – eine Oase der Biodiversität und im Herbst Weideland für das Vieh der Bauern. Fortschritt bedeutet auch, Kompromisse zu schliessen. Dämme zu errichten und Dämme wieder zu öffnen.
Alles ist vorübergehend
Mit den Zugvögeln verziehen sich die letzten Touristinnen und Sommerbewohner. Es ist Zeit, sich auf die bleibenden Werte zu besin-nen, die das Bergtal charakterisieren. «Dises tal Galancka gehört auch den Grauwpündtern/ ist gar rauch un unfruchtbar/erhaltet wenig vychs/hat ein gar arm volck, merteils zeynemacher und Hartzwalhen, bättlend darzu…»1. Das Tal hat eine jahrhundertelange Emigrationsgeschichte und eine Gegenbewegung, bis heute. In Notzei-ten dem hinaus drängenden Sog der Calancasca folgend und wieder zurückzukommen, gegen den Strom. Die Bewegung hinterlässt Spuren: In französischen oder deutschen Wortbrocken im einheimischen Dialekt: croscè zum Beispiel für häkeln oder vom deutschen her: Brosma, Röbla, Gabla…
Spuren auch in der reichhaltigen Baukultur von Kirchen und Kapellen. In der Weltoffenheit vie-ler Calanchiner, die sich ihres Emigrationshin-tergrunds bewusst sind. Zusammen mit neuen Zuwanderern prägt eine gewachsene Vielfalt die Gesellschaft. Auch eine Art Biodiversität.
Dem Winter entgegen…
Je bunter das Sommerhalbjahr, umso pastell-farbener die Winterzeit. Kein Werkbetrieb und viele geschlossene Fensterläden. Die Begegnung mit der Natur wird in der Ruhe unmittelbar. Manchmal schneereich, manchmal nur stein-hart gefroren, lässt sie Raum für leise Töne, für Nachdenkliches und für Träume.
Ohne das sommerliche Blätterwerk zeigen die nackten Seitenhänge ihre Vorgeschichte: Sorgfältig angelegte Mäuerchen ehemaliger Nutzflächen, Stallruinen oder die Narben und Runsen vergangener Naturkatastrophen. Was nicht in Geschichtsbüchern und Archivalien bewahrt ist, erzählen mündlich weitergetragene Sagen2, Erinnerungen und eine Prise Jägerlatein über die Lebensweise der Menschen in ihrer schrecklichen und wunderbaren Natur.
…und die Hoffnung auf Erneuerung
Mit Lichtmess begann im christlichen Europa der bäuerlich geprägte Jahreslauf auf der Basis vorchristlicher Tradition. In den Kirchen des Calancatals wurden an Candelora (2. Februar, Mariä Lichtmess) die Kerzen geweiht, die im kommenden Vegetationsjahr die Häuser vor Unwettern beschützen sollten. Auf den sonni-gen Terrassen von Castaneda und Santa Maria beginnt das Frühjahr lange vor dem Aufbruch im hinteren Tal. Menschen nutzen die privile-gierte Lage seit 4500 Jahren. Pflugspuren auf dem bronzezeitlichen Ausgrabungsfeld von Castaneda bezeugen urzeitliche Landwirtschaft.
Der freie Rundblick vom Turm von Santa Maria war für durchziehende Händler und Krieger strategisch wichtig. Man war in Sicht-weite mit der Welt, sowohl gestern wie heute, wo die Autobahn Nord und Süd für durchzie-hende Touristen und Pendler verbindet.
Bei der Brücke der Calancasca hinter Molina beginne Sibirien, sagen die Leute von Buseno. Die drei äusseren Gemeinden (Santa Maria, Castaneda und Molina-Buseno) konnten sich (noch) nicht für einen politischen Zusammen-schluss des ganzen Tals entscheiden, während sich die fusionierten Gemeinden Calanca und Rossa im Talinneren zu selbstbewussten Kno-tenpunkten für alte und neue regionale Netz-werke entwickeln
1 Johannes Stumpf: Chronik der Alten Eidge- nossenschaft, 1549
2 Arnold Büchi: Mythologische Landeskunde von Graubünden, Band 3