Spielen im Wald
Es gibt viele gute Gründe, mit Kindern in den Wald zu gehen. Doch auch ganze Familien, die sich gemeinsam im Wald aufhalten, profitieren als soziale Gruppe von diesen Aufenthalten, wissen Lettya Oesch und Helene Roth, die die Organisation von Waldaufenthalten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu ihren Berufen gemacht haben.
Kinder sollten sich möglichst regelmässig im Wald aufhalten, so die weitläufige Meinung. Aber warum eigentlich genau?
Lettya Oesch: Im Wald gibt es keine Wände und Grenzen. Die Kinder können sich frei in der Natur bewegen. Dies fördert unter anderem die physische und motorische Entwicklung. Das Immunsystem wird durch Bewegung und das Atmen der frischen Luft gestärkt.
Helene Roth: Natur beflügelt die kindliche Fantasie. Wald mit allen Sinnen erleben macht lebendig – so wie jede tiefgreifende Erfahrung, die berührt.
Was für Erfahrungen können Kinder im Wald machen, die sie sonst nicht machen können?
Lettya Oesch: Im Wald haben Kinder die Möglichkeit, die natürliche Umgebung zu erkunden und die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten zu entdecken. Der Wald bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten für körperliche Aktivitäten wie Klettern, Laufen, Springen und Balancieren. Kinder können ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten verbessern und ihre Ausdauer und Kraft trainieren, während sie Spass haben. Zudem entfalten Kinder ihre Kreativität und Fantasie im Wald. Sie können sich in der Natur verstecken, Rollenspiele spielen und ihre eigenen Abenteuer erfinden, was wiederum die Fantasie anregt. Und nicht zuletzt lernen Kinder, Verantwortung für ihre eigene Sicherheit und ihr eigenes Wohlbefinden zu übernehmen, wenn sie sich im Wald aufhalten. Sie müssen Entscheidungen treffen, Risiken abwägen und sich selbst schützen. Durch diese Erfahrungen können Kinder ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstbewusstsein stärken.
Helene Roth: Die Gegebenheiten im Wald sind jedes Mal anders.Das Kind definiert das vorhandene Material aus der Natur zum Spielen selbst. So wird es flexibel in seinem Denken und Handeln im Zusammenspiel mit Körper und Geist.
Helene Roth
Helene Roth ist Natur- und Wildnispädagogin i. A. und Maltherapeutin begleitetes Malen. Geboren 1979, Mutter einer 9-jährigen Tochter.
Lettya Oesch
Lettya Oesch ist Natur- und Wildnispädagogin, Waldspielgruppenleiterin und Grafikdesignerin. Geboren 1976, verheiratet, Mutter von zwei Jugendlichen.
Was für Veränderungen und Entwicklungen stellen Sie fest bei den Kindern, die sich regelmässig im Wald aufhalten?
Lettya Oesch: Regelmässige Aufenthalte im Wald können die körperliche Bewegung und Motorik von Kindern verbessern. Durch das Spielen im Freien und die Bewegung auf unebenem Boden und Hindernissen werden Gleichgewichtssinn und Koordination trainiert. Regelmässige Aufenthalte im Wald können ausserdem dazu beitragen, dass die Kinder bessere soziale Fähigkeiten entwickeln. Durch das Spielen mit anderen Kindern im Freien lernen sie, Konflikte zu lösen, zu teilen und zusammenzuarbeiten. Es gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
Ihr Angebot umfasst Waldtage für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Familien. Was steckt hinter der Idee, explizit auch Familien anzusprechen und ein Angebot für sie bereitzuhalten?
Lettya Oesch: Heutzutage haben wir viel zu wenig Zeit für uns selbst. Smartphones und Games dominieren unsere täglichen Tätigkeiten. Die gemeinsame Teilnahme an Aktivitäten im Wald kann dazu beitragen, familiäre Bindungen zu stärken und vom Alltag abzulenken. Eltern und Kinder können gemeinsam Spass haben und neue Erfahrungen sammeln, die sie miteinander teilen können. Der Wald bietet eine Umgebung, die für Menschen jeden Alters spannend und interessant sein kann. Durch unsere Waldtage möchten wir Familien die Möglichkeit geben, gemeinsam die Natur zu entdecken und die positive Wirkung auf ihre Körper zu erleben. Indem wir Familien in unsere Waldtage einbeziehen, möchten wir auch dazu beitragen, dass Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein in der Familie gefördert werden. Wir hoffen, dass Familien durch unsere Aktivitäten ein besseres Verständnis für die Natur und ihre Bedeutung entwickeln und dieses Bewusstsein auch in ihren Alltag integrieren. Zudem bieten die Waldtage auch die Möglichkeit, andere Familien kennenzulernen und gemeinsam Zeit in der Natur zu verbringen.
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass der regelmässige Aufenthalt von Kindern im Wald auch deren Bildungserfolg positiv beeinflusst. Was für Beobachtungen machen Sie diesbezüglich bei Ihrer Arbeit?
Lettya Oesch: Ich habe eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit bei Waldkindern beobachtet. Auch eine Stärkung der Sozialkompetenz ist bei ihnen festzustellen. Sicherlich kann dies zu einer positiven Beeinflussung des Bildungserfolges beitragen.
Helene Roth: Naturaufenthalte fördern die soziale Interaktion, die Neugierde und die Begeisterungsfähigkeit, das Selbstvertrauen, die Inspiration und die Resilienz (menschliche Widerstandsfähigkeit).
Es gibt – wenn auch eher selten – auch Kinder, die sich nicht so gerne draussen aufhalten. Haben Sie einen Tipp, wie man diese von einem Aufenthalt im Wald überzeugen kann?
Lettya Oesch: Es kann hilfreich sein, Kinder langsam an den Wald heranzuführen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich allmählich an die Umgebung zu gewöhnen. Zum Beispiel kann man mit einem kurzen Spaziergang beginnen und dann allmählich längere Aufenthalte im Wald planen. Auch ein Spaziergang mit befreundeten Kindern oder Familien kann zur Motivation beitragen.
Helene Roth: In Gruppen-Angeboten, wie wir sie anbieten, steht das gemeinsame Erleben, Entdecken und Ausprobieren im Vordergrund. Die Freude am gemeinsamen Tun fällt oft leichter. Sich selber erleben, voneinander lernen und miteinander gestalten und die Begegnungen in der Gemeinschaft haben eine heilsame Kraft.
Lettya Oesch bietet unter dem Namen «ort-Natur» eine Waldspielgruppe für 3- bis 5-jährige Kinder und eine Mini-Eltern-Kind Vorspielgruppe an, Natur-Erlebnistage und Workshops für Jugendliche und Erwachsene sowie gemeinsam mit Helene Roth regelmässige Waldtage für Kinder ab 5 Jahren und Natur- und Wildnis-Camps in den Schulferien. Helene Roth bietet unter dem Namen «erlebnisreich-natur» ausserdem Kurse in Waldbaden und Naturmeditation für Erwachsene an.
Wenn die Kinder älter werden und ein eigenes Handy haben, kann sich dieses Thema noch verschärfen. Was raten Sie den damit konfrontierten Eltern?
Helene Roth: Wenn man in einer Phase im Leben angekommen ist, in der man alles in Frage stellt und versucht, seinen Platz zu finden, möchte man alles anders machen als die Eltern. Dies gilt es erst einmal anzunehmen, wie es ist. Ich glaube, in einer so medialen Welt gross zu werden, ist nicht immer leicht. Das Gespräch mit dem Kind zu suchen, um eine Verbindung herzustellen, ist ein erster Schritt: Beziehung ist alles. Die Stärke ist, präsent zu sein und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, diese konsequent einzuhalten, dem Kind zu vertrauen und es zu begleiten. Es hilft, selber das Handy wegzulegen und sich auf das Kind einzulassen, ihm zuzuhören und ehrliches Interesse zu zeigen. Dann kann das Kind eingeladen und ihm angeboten werden, gemeinsam Zeit in der Natur zu verbringen.
Man schützt nur, was man kennt. Welche Beobachtungen machen Sie bei Ihrer Arbeit bezüglich dieser Aussage?
Helene Roth: Naturnahe Erfahrungen und das Ansprechen aller Sinne, also bewusste Handlungs- und Erlebnisorientierung, sodass eine emotionale Bindung zur Natur aufgebaut werden kann, führen zu mehr Naturvertrautheit und Wertschätzung für die Umwelt. Diese fördert so langfristig die Motivation für das Umwelthandeln und das Verständnis für Umweltschutz und ermöglicht somit, eigene Verhaltensänderungen bei sich vorzunehmen. Die Entfremdung von der Natur ist auch Entwurzelung und Entfremdung von uns selbst. Wenn der Samen der Naturverbindung in der Kindheit aber gelegt ist, so findet der Mensch früher oder später zu ihr zurück.