Hütte gut, Dessert gut, alles gut
Sie ist die Grand Old Lady unter den Naturfreundehäusern, die Gornerenhütte im Berner Oberland. Wer auf ihrer Terrasse Platz nehmen und die Aussicht geniessen kann, braucht eigentlich nicht viel mehr zu seinem Glück. Ausser vielleicht ein feines Dessert von Gastgeber Daniel Bösch oder eine schöne Wanderung am nächsten Tag.
Bereits die Anreise ist spektakulär. Von Reichenbach im Kandertal aus gehts mit dem Postauto hoch ins Dörflein Kiental, vorbei am historischen Hotel Bären, wo einst Lenin für eine Konferenz weilte und weiter zum Naturschutzgebiet Tschingelsee. Der See, 1972 nach einem heftigen Gewitter mit Murgängen entstanden, ist bereits wieder am Verlanden, aber noch immer von einer schlichten, kargen Schönheit, die etwas an kanadische Weiten erinnert. Nach dem See müssen die Reisenden auf ein kleines Postauto umsteigen. Nur das Kleinformat vermag die engen Kurven der steilsten Postautostrecke Europas zu bewältigen. Begleitet werden die stotzigen Kurven von einem rauschenden Wasserfall nach dem anderen. Dann weitet sich das Tal und das Postauto hält auf der Griesalp. Von hier sind es noch zehn Minuten zu Fuss zum Naturfreundehaus Gorneren. Auf dem kurzen Fussweg geht das landschaftliche Spektakel in die nächste Runde. Rundum grüssen hier der Zahm Andrist, das Hundshore, die Wildi Frau und die Blüemlisalp, das Dünde- sowie das Ämighore und versetzen die Wanderbeine in ein vorfreudiges Kribbeln.
Was es braucht, um glücklich zu sein
Im Naturfreundehaus Gorneren ist seit Mai diesen Jahres Daniel Bösch amtierender Gastgeber. Der gelernte Bäcker-Konditor – seine Neuinterpretation der Schwarzwäldertorte ist im Kiental bereits jetzt legendär – ist auf Umwegen Hüttenwirt geworden. Nach seiner Zeit in der Backstube hat Bösch zwanzig Jahre lang als Versicherungsberater gearbeitet und daneben als Handballer zweitweise in der höchsten Liga gespielt. Mit den Berufsjahren wuchs bei Bösch jedoch der Druck, der auf Versicherungsberatern lasten kann, deren Leistung permanent mit derjenigen der Kolleginnen und Kollegen verglichen wird. Vor fünf Jahren hat er deshalb die Reissleine gezogen und sich einen Job in der Küche einer Berghütte gesucht. Diese Arbeit hat ihm so gut gefallen, dass er noch eine zweite solche Station angehängt hat. Danach war für Daniel Bösch klar, wie sein Berufsleben in den nächsten Jahren aussehen soll. Und nun ist er in der Gornere im schönen Berner Oberland sein eigener Chef und ein engagierter, kommunikativer und umsichtiger Gastgeber, der grossen Wert legt auf das Wohl (Desserts!) seiner Gäste und auch mit den Einheimischen einen guten Kontakt pflegt. «Hier kann ich mich verwirklichen. Die harte Arbeit und die langen Tage machen mich zufrieden. Das vor allem spürt man hier oben, wie wenig es braucht, um glücklich zu sein», so Bösch.
Ein Haus und ein Vermächtnis
Die Gornerenhütte ist mit Eröffnungsjahrgang 1913 das älteste noch bestehende Naturfreundehaus in der Schweiz. Noch immer gut zu sehen an der Fassade über dem Eingang ist der beim Bau der Hütte aufgemalte Spruch «Hand in Hand durch Berg und Land». Das Haus steht damit weitherum sichtbar zur bis heute wichtigen und gültigen Gründungsidee, dass die Natur gemeinsam und für alle zu geniessen sein soll – und nicht nur für diejenigen mit dem grossen Portemonnaie. Auch im Inneren des Hauses ist die Naturfreunde-Gründerzeit noch wahrnehmbar. Ausser ein paar Farbtupfern, die Daniel Bösch gesetzt hat, sieht es noch so aus, wie man sich vorstellt, dass es vor Jahrzehnten schon ausgesehen hat. Das Mobiliar ist schlicht und zweckmässig, Schnickschnack sucht man glücklicherweise vergeblich und der Essraum sonnt sich im Glanz der gemütlichen Hüttenarchitektur.
Die Hütte ist bis 23. Oktober 2022 täglich für Übernachtung- und Tagesgäste geöffnet. Die Winteröffnungszeiten werden auf der Webseite bekanntgeben. Eine Übernachtung mit Frühstück kostet für Naturfreunde-Mitglieder ab 40 CHF und für Nichtmitglieder ab 43 CHF, mit Halbpension ab 66 CHF und für Nichtmitglieder ab 69 CHF, Kinder und Jugendliche profitieren von Ermässigungen. Anreise im Sommer mit öffentlichen Verkehrsmitteln ab Reichenbach mit dem Postauto. Im Winter fährt das Postauto nur bis Kiental, Ramslauenen. Der Fussmarsch zur Hütte dauert ab da ca. 2,5 h. Bei Bedarf fährt ein Taxi bis Tschingel. Ab da dauert der Fussmarsch ca. 1 h.
Bei unserem Besuch ist die Gornere erfüllt vom friedlichen Nebeneinander junger Familien mit quirligen Kindern, erschöpften Berggängerinnen und Berggängern mit strahlenden Augen, Einheimischen, die auf ein Gläschen vorbeikommen und jungen Gästen, die in der neuen Lounge auf der Terrasse chillen. Der Umgang ist herzlich und rücksichtsvoll, man kommt ins Gespräch und erzählt einander von den Erlebnissen des Tages. Die Plätze auf der Sonnenterrasse sind naturgemäss begehrt, daran hat aber auch die kleine Speise- und Getränkekarte ihren Anteil. Daniel Bösch legt Wert da-rauf, dass möglichst viele Produkte aus der unmittelbaren oder näheren Umgebung stammen. So kommen Fleisch und Käse aus dem Kiental, das Bier aus dem Berner Oberland und der Wein aus dem angrenzenden Wallis. Neben Frühstück und Abendessen serviert Gastgeber Daniel Bösch tagsüber Kleinigkeiten wie Coupes, Kuchen und Torten (!) oder Chnoblibrot. In der Küche macht er grundsätzlich so viel wie möglich selbst – unterstützt von einigen Angestellten.
Im Naturfreundehaus Gorneren stehen in gemütlichen 1er- bis 8er-Zimmern 50 Schlafplätze zur Verfügung. Wer sich von der charmanten Hütte lösen kann, dem stehen im Kiental die Wander- und Skitourenwelt weit offen. Wer etwas mehr mag, gelangt beispielsweise von der Griesalp über die Sefinenfurgge bis nach Mürren oder auf das Schilthorn oder via Oeschinensee nach Kandersteg. Es gibt aber auch kürzere Routen, die wieder auf die Griesalp zurückführen und von denen viele auch mit Kindern gut machbar sind.