Damit sich Schutz und Spass die Waage halten
Am Aargauer Hallwilersee vermitteln seit zwölf Jahren Ranger zwischen der Natur und den Besucherinnen und Besuchern. Eine Arbeit, die nicht immer konfliktfrei ist, ohne die es am See aber nicht mehr gehen würde.

Wer den Begriff Overtourism hört, denkt vermutlich eher an Städte wie Venedig, Amsterdam oder Barcelona als an schöne Ecken in der kleinen Schweiz. Tatsächlich gibt es aber auch hierzulande Orte, die zeitweise von zu vielen Touristinnen und Touristen gleichzeitig aufgesucht werden. Dazu gehören neben vielen anderen etwa das Restaurant Aescher im Alpstein oder die Brücke Ponte dei Salti in Lavertezzo im Verzascatal, beide werden nach unzähligen Posts in sozialen Medien seit einigen Jahren in regelmässigen Abständen von Menschenmassen überrannt, was unter anderem zu Problemen mit Anwohnenden und mit der Umwelt führt. Nur bedingt vergleichbar sind die beiden Beispiele mit touristischen Hotspots wie etwa der Rigi oder der Stadt Luzern, die im grossen Stil Werbung machen für ihre Destination – insbesondere auch bei Reisenden aus Übersee.
Ein dritter beispielhafter Fall ist das Aargauer Seetal mit Hallwiler- und Baldeggersee. Es ist kein Instagram-Abräumer, wird hauptsächlich in der Schweiz beworben und erfreut sich trotzdem wachsender Beliebtheit bei Gästen aus der Region, aber auch den umliegenden Kantonen und sogar Süddeutschland. Dass heute deutlich mehr Menschen als noch vor zwanzig, dreissig Jahren ins Seetal reisen, hat vermutlich schlicht mit dem Bevölkerungswachstum zu tun.
Doch was auch immer die Gründe sind, warum ein Ort gerade von Overtourism betroffen ist, am Ende des Tages bleibt überall eine Menge Abfall liegen, Einheimische sind verärgert wegen des Privatverkehrs und der vielen Menschen, die Natur leidet und die Tiere sind verschreckt. Ein Zustand, dem im Fall des Hallwilersees die Anliegergemeinden seit 2010 mit einem Ranger-Dienst entgegentreten. Aufgabe der Ranger ist es, die Gäste auf Regeln und Vorschriften hinzuweisen und zu erklären, aus welchen Gründen es sie gibt. Sie erteilen aber auch Auskunft über die Landschaft sowie die Tier- und Pflanzenwelt rund um den See und vermitteln bei Konflikten. Um zu erleben, was diese Art der Konfliktlösung im Berufsalltag der Ranger genau bedeutet, habe ich mich einen halben Tag lang an die Fersen von Ranger-Dienstleiter Wilke Scheitlin-Brandt geheftet und ihn auf einem seiner Rundgänge am See begleitet.
Wachsendes Besucheraufkommen
Wir treffen uns an einem sonnigen Sonntagmorgen beim Schloss Hallwyl. Später am Tag wird es gegen 30 Grad warm werden – Wilke Scheitlin Brandt erwartet viele Gäste heute. Zu beunruhigen scheint das den in sich ruhenden gebürtigen Norddeutschen jedoch nicht. Das 800-jährige Wasserschloss hat seine Tore um diese Zeit noch nicht geöffnet. Es ist einer der Hotspots am See und mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar, trotzdem kommen viele Besucherinnen und Besucher mit dem Auto. Und damit sind wir bereits bei einem der Konfliktherde am Hallwilersee. Die zur Verfügung stehenden Parkplätze sind an schönen Tagen rasch gefüllt, was zu Suchverkehr und Wildparkieren führt. Der Verkehrsdienst tut zwar sein Bestes, die Massen zu lenken, doch das Problem ist, dass man erst in der Nähe des Sees erfährt, dass die Parkplätze voll sind. Mit einem digitalen Leitsystem, bspw. einer App, – ein solches ist in einige Anliegergemeinden im Gespräch – wüssten potenzielle Besucherinnen und Besucher schon vor dem Losfahren, ob es am See noch freie Parkplätze gibt. Die Ranger freilich haben mit den vollen Parkplätzen eigentlich nichts zu tun, sehr wohl aber mit den Menschenmassen, die sich mit den Autos an den See karren.
Wilke Scheitlin-Brandt erzählt, dass das Besucheraufkommen, das ohnehin schon von Jahr zu Jahr mehr werde, während der Corona-Zeit schier explodiert sei. «Es kamen Leute, die offenbar noch nie in der Natur unterwegs waren und keine Ahnung hatten, wie man sich in ihr benimmt.» Dazu muss man wissen, dass es rund um den Hallwilersee Naturschutz- sowie diverse andere Schutzzonen gibt, in denen je etwas andere Regeln gelten. Diese werden über Schilder kommuniziert. Wer sie liest, weiss jederzeit und an jedem Ort, welche Regeln hier gelten. Doch: «Die meisten Leute lesen sie nicht. Sie kommen hierher, weil sie ihren Spass haben wollen. Dazu passen Regeln und Verbote nicht.»

Diese Regeln gelten auf Schweizer Seen: natur-freizeit.ch/wasser. Die Kampagne wird organisiert vom Verein Natur & Freizeit, dem auch die Naturfreunde Schweiz angehören.
Am Wasserschloss vorbei fliesst gemächlich der Aabach. Hier befindet sich eine beliebte Einstiegsstelle für Böötler und – immer populärer – Stehpaddler, englisch Stand Up Paddling (SUP). «Die Einstiegsstellen sind rund um den See angeschrieben. Denn nicht überall, wo gebadet werden darf, darf man auch mit dem SUP ins Wasser. Viele Leute gehen aber gleich da rein, wo sie Lust haben, auch wenn es dort vielleicht Schilf- oder Seerosenbestände gibt, die weder betreten noch befahren werden dürfen», sagt Scheitlin-Brandt. Wenn er jemanden sieht, der an einer unbefugten Stelle wassern will, erklärt er ihm, warum das nicht geht. Sind die Leute jedoch mal auf dem Wasser und ausser Rufweite, darf der Ranger nicht mehr einschreiten, denn hier ist die Wasserpolizei zuständig. Draussen auf dem See gelten für SUPs die gleichen Regeln wie für andere nichtmotorisierte Boote. Bojen in verschiedenen Farben zeigen auf dem Wasser an, wie weit man ans Ufer oder an eine Schutzzone heranfahren darf. Doch diese Sprache muss man lesen können. «Wer hier am See bei den offiziellen Anbietern ein SUP mietet oder einen Anfängerkurs absolviert, wird auch über die geltenden Gesetze aufgeklärt. Wer sein Boot hingegen im Internet bestellt und auf eigene Faust losfährt, weiss meistens nichts von diesen Regeln.»
Verborgene Schätze
Wir gehen vom Schloss Hallwyl in Richtung Brestenberg. Der Weg führt durch das grösste Flachmoor des Kantons Aargau. Auch das eine Zone, die eigentlich keinesfalls betreten werden dürfte – ausser von Fachpersonen zur Pflege. Wilke Scheitlin-Brandt kommt ins Schwärmen, als er mir erklärt, welche seltenen Pflanzen es hier noch gebe, wie viele verschiedene Wasser- und andere Vögel sowie Amphibien und dass der Biber seit einiger Zeit wieder heimisch sei am See. Das Problem ist nur, dass das, was Scheitlin-Brandt so liebt und unbedingt schützen will, für die meisten Augen unsichtbar ist. Nur die ganz stillen und aufmerksamen Seebesuchenden bekommt die tierische Seetalbevölkerung hin und wieder zu sehen. Alle anderen vertreiben die Tiere allein schon mit ihren Menschengeräuschen. Manche Wasservögel, das wiederholt Scheitlin-Brandt an diesem Tag mehrmals, haben eine Fluchtdistanz von mehr als 50 Metern. Wer am Land oder über das Wasser näher an die Tiere herangeht, schreckt sie auf und treibt sie in die Flucht. Und jede Flucht bedeutet für die Tiere eine grosse Irritation, das Gelege oder auch die Vogelbrut bleiben ungeschützt zurück und kann so rasch Fressfeinden zu Opfer fallen. Deshalb ist es so wichtig, dass es Zonen gibt, in die die Menschen nicht hineingelangen – gerade auch vom Wasser aus. Mit einem SUP kann leicht und leise ins geschützte Schilfgebiet am Ufer hineinfahren – man darf aber auf keinen Fall!
Am Brestenberg nehmen wir das Kursschiff nach Beinwil am See. Auch die Schifffahrt auf dem Hallwilersee gehört zum Rückgrat des Tourismus im Seetal und bringt viele Menschen hierher. Ich beobachte, wie die Leute reagieren, wenn Wilke Scheitlin-Brandt in seiner Uniform dahergelaufen kommt. Er wird aus meiner Sicht eindeutig als Autoritätsperson wahrgenommen und oft gegrüsst, manche schauen leicht gehetzt um sich und fragen sich vielleicht, ob sie gerade etwas Unerlaubtes getan haben, und wieder andere erklären in unverkennbaren Aargauer Dialekt dreist, dass sie nicht gewusst hätten, dass es am Hallwilersee Ranger gibt (seit 12 Jahren!), verschweigen aber, was sie damit genau mitteilen möchten.
In Beinwil am See zeigt mir der Ranger-Dienstleiter, wie kreativ die Gemeinde ihr Parkplatzangebot beim Schwimmbad ausbaut, weil immer mehr Tagestouristinnen und -touristen mit dem Wohnmobil anreisen. Auf dem Weg weiter nach Birrwil treffen wir auf ein Paar mit drei Hunden. Angeleint ist nur einer. Der Ranger stellt sich vor und weist die Hundehaltenden freundlich darauf hin, dass am ganzen See Leinenpflicht gilt für Hunde. Die beiden reagieren so, wie gemäss Scheitlin-Brandt 95 Prozent aller Personen, die von den Rangern auf ein Fehlverhalten hingewiesen werden: 1. Ach, das wusste ich gar nicht! (In diesem Fall sagen das zwei Seetaler.) 2. Und warum genau gilt diese Regel hier? (Der Ranger erklärt ruhig und geduldig.) 3. Ja in diesem Fall nehmen wir die Hunde selbstverständlich an die Leine. (Wirklich die absolute Mehrheit reagiert so einsichtig.)
Kommunikation ist alles
Ich frage Wilke Scheitlin-Brandt, wie es für ihn sei, bei seiner Arbeit hier immer wieder dasselbe erklären zu müssen. «Das macht mir nichts. Ich liebe diesen Beruf und das Erklären gehört nun mal dazu. Und am Schluss geht es dabei immer darum, diese wunderschöne Landschaft hier zu schützen und zu erhalten.» Er erzählt aber auch, dass immerhin 5 Prozent der Leute, die auf einen Regelverstoss hingewiesen werden, unwillig bis renitent reagieren. Das kann schon mal so weit gehen, dass die Ranger, die unbewaffnet sind und keine Bussen ausstellen, die Polizei hinzuziehen müssen. «Da gibt es schon auch unangenehme Situationen.» Es ist sicher nicht verkehrt, denke ich für mich, dass Scheitlin-Brandt ursprünglich als Sozialpädagoge tätig war. Mir scheint, diese Arbeit hier als Ranger sei in erster Linie eine pädagogische, bei der auch die Kommunikationskompetenz eine grosse Rolle spielt. «Kommunikation ist immens wichtig», bestätigt mir Scheitlin-Brandt. «Wer latent aggressiv auf die Leute zugeht, erreicht gar nichts.»
Hilfreich kann es auch sein, wenn die Ranger mit gutem Beispiel vorangehen. So kann es Wunder wirken, wenn sie etwa auf einer gut besuchten Wiese Abfall auflesen und in den Abfalleimer stecken. Dann stehen die Leute gemäss Scheitlin-Brandt sofort auf, um auch noch ein Fitzelchen aufzuheben und zu entsorgen – aber nicht ohne zu murmeln, dass der Abfall am Boden nicht von ihnen sei.
Wir treffen an diesem Sonntagmorgen zum Glück nicht auf grössere Probleme und haben deshalb auch noch Zeit, die Schönheit der Landschaft, die auch ein tolles Wandergebiet darstellt, zu würdigen. Am Ende unseres Rundgangs denke ich, dass es wohl in Zukunft auch in vielen anderen schönen Ecken des Landes nicht mehr ohne Ranger-Dienste gehen wird. Das ist einerseits etwas traurig, andererseits aber auch einfach eine Realität. Der Vorteil für die Besucherinnen und Besucher dieser Orte wird sein, dass die Ranger sie an ihrem enormen Wissen über Fauna und Flora der Region werden teilhaben lassen.
Im Aargauer Seetal laden das Naturfreundehaus Hofmatt in Dürrenäsch* und das Partnerhaus Tennwil (tennwil.ch) mit Arbeiterstrandbad, Zeltplatz und Gruppenhaus zum Besuch ein.