Eine Wanderung mit sozialen Nebenwirkungen
Einmal jährlich bieten die Naturfreunde Herzogenbuchsee eine Wanderung für eine ganz spezielle Gruppe von Menschen an. Eine Gruppe, die speziell dankbar ist für dieses Angebot.
Es ist eine Wandergruppe wie jede andere, die sich an diesem kühlen Morgen in Herzogenbuchsee am Bahnhof trifft. Die Kinder wärmen sich mit Quasseln und Herumflitzen auf, die Erwachsenen ziehen die Reissverschlüsse ihrer Jacken noch etwas höher und vergraben die Hände in den Hosentaschen. Nachdem alle ihr Zugticket erhalten haben, gehts mit der Bahn von Herzogenbuchsee nach Kleindietwil. Dort wartet Wanderleiter André Ingold bereits auf die wohl grösste Wandergruppe, die er je geleitet hat. Und die Gruppe wird noch zahlreicher: Ein Bus bringt noch die Teilnehmenden aus Aarwangen nach Kleindietwil, später beim Znüni wird die Gruppe nochmals um fast die Hälfte grösser.
Und dann gehts los, hügelauf und hügelab durch den pittoresken Oberaargau, dem landschaftlichen kleinen Bruder des Emmentals. André Ingold erhält als Wanderleiter schon bald Unterstützung von zwei Buben, die knapp die Wanderkarte lesen können, dafür aber umso eifriger bei der Sache sind. Die zahlreichen anderen Kinder, die nicht mit der Assistenz der Leitung der Gruppe beschäftigt sind, machen Kindersachen: Schnecken bestaunen, Kühe anmuhen, Fangnis spielen und viel, viel plaudern. Die Grösseren kümmern sich um die Kleineren und achten darauf, dass sie schön bei der Gruppe bleiben. Und die Erwachsenen? Die sind froh, dass der Weg nur durch den landschaftlichen kleinen Bruder und nicht durch das Original führt, denn so bleibt viel Luft, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Zum Beispiel mit Firoozeh Miyandar, die strahlt vor Glück, dass sie an dieser Wanderung teilnehmen kann und erzählt, dass sie früher im Iran gerne zum Klettern in die Berge gegangen sei. Die Mutter eines zehnjährigen Sohnes lebt seit zwei Jahren mit ihrer Familie in der Schweiz.
In dieser Zeit hat sie sich grösstenteils selbst Deutsch beigebracht und steht heute kurz vor Niveau C1. Beim Sprechen bekundet sie eine grosse Sorgfalt der Sprache gegenüber, wählt ihre Worte sorgfältig aus und fragt immer wieder nach, ob sie ein bestimmtes Verb richtig konjugiert oder ein Adjektiv korrekt dekliniert hat. Meistens hat sie. Firoozeh Miyandar würde sich nichts mehr wünschen, als in der Schweiz bleiben und wie im Iran als Physiotherapeutin arbeiten zu können. Stattdessen lebt die Familie zu dritt in einem einzelnen Raum im Rückkehrzentrum Aarwangen und muss jederzeit damit rechnen, ausgeschafft zu werden. Eine Rückkehr in den Iran, erzählt Firoozeh Miyandar, würde sie wohl nicht überleben. Um sich etwas abzulenken, unterstützt sie andere Geflüchtete in Aarwangen mit Übersetzungsdienstleistungen beim Kontakt mit Behörden. «Ich wünsche mir nur ein ruhiges und sicheres Leben für mich und meine Familie und dass ich wieder arbeiten kann. Gerne würde ich ausserdem ab und zu wandern gehen, das würde mir gefallen. Wenn wir die Schweiz verlassen müssen, weiss ich nicht, wohin wir gehen sollen. In einem anderen Dublin-Staat dürfen wir nicht Asyl beantragen und in den Iran können wir nicht zurück.»
Schokolade zum Znüni
Unterdessen ist die Wandergruppe beim Znüniplatz neben einem Bauernhof angekommen. Der Besitzer des Hofs stellt der grossen Schar spontan eine Wiese mit Tischen und Bänken zur Verfügung. Die Kinder machen sich über die Schokolade her, während die Sonne das erste Mal an diesem Tag richtig warm vom Himmel grüsst. Gestärkt und aufgewärmt macht sich die Gruppe an das letzte Wegstück bis zum Naturfreundehaus Sunneschyn auf der Wäckerschwend.
Ali Hosseini erzählt, dass er im Sommer regelmässig mit einer Gruppe Bekannter mit den Fahrrädern rund um Herzogenbuchsee und Aarwangen unterwegs sei. Aber auch Wandern mache ihm viel Freude. Am allerglücklichsten wäre er jedoch, wenn er wieder als Lastwagenmechaniker arbeiten könnte, wie er es in Afghanistan getan hat. Lastwagen sind seine grosse Leidenschaft und er weiss wirklich alles darüber. Er berichtet, dass er zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern grossenteils zu Fuss von Afghanistan in die Schweiz geflüchtet sei. Seine Erzählung verleiht dem Thema Wandern eine ganz neue Dimension. Ob Ali Hosseini, seine Frau, ihre beiden Töchter und zwei Söhne in der Schweiz bleiben können, wissen sie nicht. Zurück nach Afghanistan möchten sie auf keinen Fall. Die Kinder gehen hier zur Schule, die Eltern sprechen beide sehr gut Deutsch – so gut, dass Ali Hosseini sogar Witze machen kann in der fremden Sprache.
Ein Dach über dem Kopf
Und dann kommt die Gruppe schliesslich beim Naturfreundehaus an und André Ingold ist froh, dass er die grosse, quirlige Schar sicher ans Ziel gebracht hat. Beim Haus warten Fritz Bangerter, Hauptorganisator des Anlasses und Co-Präsident der Naturfreunde Herzogenbuchsee, und seine Helfer:innen aus der Sektion bereits mit warmem Kaffee, Sirup und einem grossen Feuer zum Aufwärmen auf die Wandernden. Und in der Küche stehen weitere Sektionsmitglieder und bereiten ein feines Nachtessen für die gut 60 Teilnehmenden vor. «Wir organisieren die Wanderungen mit Geflüchteten in Zusammenarbeit mit der freiwilligen Flüchtlingshilfe Herzogenbuchsee nun bereits zum siebten Mal», erzählt Fritz Bangerter. Es sei jeweils ein rechter Aufwand, damit alles so klappt, wie das Organisationskomitee es vorgesehen hat. Der Lohn für den Aufwand ist die grosse Nachfrage nach dem Anlass und die ganztags rundum glücklichen Gesichter dieser Wandergruppe wie fast jede andere auch – mit dem kleinen Unterschied, dass nicht alle Teilnehmenden am Abend in ein gemütliches, sicheres Zuhause zurückkehren können.