Den Freunden eine Allee
Alleen! Man möchte sie immerzu bedichten, ihre Eleganz, ihre so verschiedenen Schattenreiche, ihr blühendes Blattgemäuer, ihre verborgenen Zwecke, ihre Geheimnisse. Manchen ist ablesbar, wozu sie da […]

Alleen! Man möchte sie immerzu bedichten, ihre Eleganz, ihre so verschiedenen Schattenreiche, ihr blühendes Blattgemäuer, ihre verborgenen Zwecke, ihre Geheimnisse. Manchen ist ablesbar, wozu sie da sind. Aber nur bei einer ist der Zweck ungewöhnlich und einzigartig: Die Bäume der Allée des Naturalistes im Hochtal Les Ponts über Neuenburg tragen die Namen von vierzig Naturwissenschaftlern und 18 Juristen und Politikern aus acht Ländern. Im Internet findet man zwei wirre Einträge, die ins Leere führen.
Ihr Urheber hiess Edouard Desor. Ein deutscher Hugenotte, Jurist, politischer Flüchtling von 1832 aus Hessen. Er hatte öffentlich über die Freiheit nachgedacht, dafür drohte ihm Unfreiheit. Über Paris und Bern kam er zu Louis Agassiz in Neuenburg, wurde Naturforscher und Forschungsreisender und liess sich einbürgern.
Desors Karriere war rasant und steil. Er wurde Gross-, Staats-, Stände- und Nationalrat sowie dessen Präsident und Schulrat der ETH Zürich. Er schrieb als Naturwissenschaftler und gegen die Sklaverei. Die Schweiz verdankt ihm erhebliche Teile ihrer geologischen Kartografie, den Begriff Moräne – und die Bezeichnung Agassizhorn. Die wollte man vor ein paar Jahren abschaffen, weil Agassiz Rassist gewesen war. Der Name blieb. Denn wie viele Rassisten müsste man sonst aus den Büchern streichen? Das Geschäft der Mündigkeit ist nicht, Geschichte auszulöschen, sondern sie kenntlich zu machen und aus ihr zu lernen.
Am Ende der Allee stand damals Desors Landhaus «Combe-Varin». Die Besucher kamen aus aller Welt, blieben über Nacht, debattierten, stritten, tauschten Ideen, entwarfen Projekte. Irgendwann griff Desor zu Pinsel und Farbe und begann die ihm wichtigsten Namen auf die Bäume seiner einreihigen Allee zu malen. Kennen wir sie noch? Merian, Escher (von der Linth), die Brüder Favre, Virchow, Liebig, Dollfus und alle andern.
Edouard Desor hat ihnen mit dem ältesten Symbol des Lebens, dem Baum, ein solitäres Denkmal gesetzt. Sie sind also nur tot; aber nicht vergessen.