Die Vorzeichen des Kalten Krieges
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühten sich die Naturfreunde in Europa nach Kräften, trotz des erlittenen Unrechts als Organisation wieder auf die Beine zu kommen. Doch schon bald sollte ihre Gesinnung wieder zu einem Problem werden.

Kriegsende: Kapitulation am 9. Mai 1945. Nur eine Woche früher, im Mitteilungsblatt datiert vom 1. Mai 1945, waren die kriegsbedingten Schmerzthemen aus den Berichten verschwunden. War das nahe, langersehnte Kriegsende schon gewiss? Vermutlich, vor allem aber musste das Blatt mit dem Untertitel «Jubiläumsnummer» jede bisher übliche Form von 50-Jahr-Feierlichkeiten ersetzen. Der Krieg erlaubte auch nach dessen Ende noch kein einfaches Reisen mit Grenzübertritten. Zudem funktionierte die grenzüberschreitende Post nicht. Jedenfalls wussten die Wiener, die sich ein würdiges Fest im September in Wien wünschten, bis Ende August noch nichts vom Jubiläumsheft. Ihr Einladungsbrief, datiert vom 30. August 1945, erreichte Zürich erst mit zehnwöchiger Verspätung. Das Jubiläumsheft als Ersatz war schon längst geschrieben, gedruckt und mit fraglichem Erfolg auch ins Ausland verschickt worden.1
Jubiläumsbeiträge in grosser Vielfalt füllten das Heft. Es reichte von informativer Mitgliederstatistik2 über Frühlingsbetrachtungen mit Kirschblüte zu ausgesucht verlockenden touristischen Empfehlungen und weiter zu einer bemerkenswerten (Selbst-)Analyse 1907–1933 von Walter Escher3, bis hin zu einem lesenswerten, aber wenig selbstkritischen Werbebeitrag des damaligen Zürcher Stadtpräsidenten Adolf Lüchinger, der das «Rote Zürich» hochleben liess. Mann fühlte sich in Zürich als «wirtschaftliche, geistige und kulturelle Metropole des Schweizerlandes» – n’est-ce pas, mes amis? Nicht nur das offizielle Zürich, sondern auch die Zürcher Naturfreunde waren umtriebig. Schon früh hatten sie sich für Unterkünfte in den Voralpen eingesetzt, 1911 vorerst zur Miete, später mit der Errichtung von Hütten und Ferienhäusern (Stoos, Fronalp, Flumserberge usw.). Ironie, vielleicht aber auch ein bedenkenswerter Wink der Geschichte ist allerdings, dass die heutige Sektion Züri, abgesehen von der Beteiligung an einer Hausgemeinschaft, keine einzige dieser Herbergen mehr ihr Eigen nennt. Selbst das stadtnahe Albishaus hatte den Gang in den Privatbesitz angetreten.
Bei der 50-Jahr-Angelegenheit war gleichzeitig eine 40-Jahr-Rückschau auf die Naturfreunde Schweiz möglich. Zwei Fliegen auf einen Schlag. Der vom erfahrenen Hauptredaktor Albert Georgi für gute Lesbarkeit schön gegliederte, sechsseitige (!) Jubiläumsbeitrag 1905–1945 ist stellenweise mit einer Prise Humor gewürzt, wenn Georgi beispielsweise einen Vers von Heinrich Heine zitiert, der die Leistung von «Schweizer» Naturfreunden ins richtige Licht rückt: «Basel wurde am 2. Juli 1906 gegründet von 1 Ungar, 1 Oesterreicher, 9 Deutschen und 3 Schweizern.»4 Naturgemäss hatte die Rubrik ‚Aus unserer Bewegung‘, die jeweils den Abspann des Naturfreundeheftes bildete, in einem Jubiläumsheft nur geringen Umfang. In Langendorf (SO) sei im Vorjahr die Gruppe ‚Mittelleberberg‘ gegründet worden und im Kanton Aargau im Februar die Ortsgruppe Kölliken. Das ’13. Schweizerische Arbeiter-Skirennen in Grindelwald‘, BOK-Informationen und ‚Die Ecke der Esperantisten‘ ergänzten eine USA- und eine Belgien-Mitteilung. Umso mehr lohnt sich der Blick in die Folgehefte, die nun wieder ganz dem Naturfreundealltag gewidmet sind.
Wir Dresdner Naturfreunde und Bergsteiger sind in der Einheitstouristenbewegung vereint. Alle Funktionäre sind Genossen, somit Antifaschisten, aber naturbegeisterte Menschen … [?]
Die Rückeroberung
Welch eine Freude musste geherrscht haben, als gleich nach dem Sturz der Nazidiktatur die Kontakte zu den weltweit verstreuten Ortsgruppen wieder aufgenommen werden konnten. Schon am 12. Mai, drei Tage nach der Kapitulation, war in der Schaffhauser Arbeiterzeitung zu lesen, dass die Naturfreunde Singen ein Plakat am Bodenseehaus anbrachten: «Dieses Haus war Eigentum des Touristenvereins ‚Die Naturfreunde‘ und wurde uns im Jahre 1933 gestohlen. Wir nehmen es, vorbehältlich der Genehmigung der Besatzungsbehörde, hiermit wieder in unseren Besitz.»5 Die Angst, Naturfreunde hätten zu den Nazis wechseln können, schien den Herausgebern in Zürich nun nachweislich unbegründet zu sein. «Voll Stolz berichten sie [aus Singen], dass noch ein Stamm treuer Naturfreunde beisammen sei […]. Leider sei ein Teil von ihnen in Kriegsgefangenschaft.» Gute Nachrichten auch aus Frankreich, namentlich aus dem Elsass und aus Schweden. Aus Österreich kam die Meldung, dass der bald 77-jährige Dr. Karl Renner (enthusiastisches Wiener Gründungsmitglied von 1895; damals 25-jährig) nun wieder an der Spitze einer neuen österreichischen Regierung stehe, «unter Einwilligung der russischen Besatzungsmacht». Noch war die Sicht auf die Sowjetunion nicht getrübt, was übrigens auch die zahlreichen Beiträge über russische Alpinisten der Hefte ab 1934 auszeichnete.
Und ebenso herrschte noch die unbestrittene Selbstverständlichkeit, dass naturfreundliche Werte aller Art (Bildung, Kultur, Tourismus, Naturschutz, Gesellschaftsentwicklung, Alkoholfreiheit, Menschenwürde, Nächstenliebe, Solidarität, Esperanto usw. usw.) mit sozialistischen Idealen einhergingen, resp. ohne soziale Zielsetzung wertlos wären: «Der Zweck unseres Vereins ist ja – wie es Artikel 2 unserer Statuten sagt – nicht nur darauf gerichtet, das arbeitende Volk durch Wandern, Bergsteigen und Reisen körperlich und geistig zu fördern, sondern auch darauf, es für eine vernünftige Gestaltung des sozialen Lebens zu gewinnen.»6
Im letzten Mitteilungsblatt des Jahres 1945 sind fünf Briefe, teilweise gekürzt, abgedruckt, in denen sich überlebende Naturfreunde aus Europa beim Zentralausschuss in Zürich «zurückmelden». Besser kann Freude, Erleichterung, aber auch Aufatmen nach unsäglicher Not und Niedergeschlagenheit wohl kaum wiedergegeben werden. In den Schilderungen der Befreiung überschlugen sich die Worte. Es waren herzzerreissende Botschaften. Wenn etwas Weihnachtsgeschichte war, dann das.7
Hilfe von den Amerikanern
Schon 1946, anlässlich einer ersten internationalen Konferenz mit deutschen Naturfreunden, konnte der Landesverband in seinem eigenen Heft erstaunliche Lageberichte aus den Besatzungszonen publizieren.8 Aus den meisten Zonen wurden viele, insgesamt mehrere Tausend Mitglieder gezählt, die sich kurzerhand bei den Ortsgruppen gemeldet hatten. Aus Schweizer Sicht wurde die bange Frage gestellt, ob dann nicht auch verkappte Nazis eintreten könnten. Aus deutscher Sicht stellte sich dieses Problem nur theoretisch, nicht aber praktisch. Wer nicht zwangsrekrutiert wurde, somit nun auch viele Frauen, führte einen Überlebenskampf, der die Menschen, auch wenn sie vorher noch nicht Mitglied der Naturfreunde waren, verband. Entweder kannte man sich oder es wurde bei Aufnahmegesuchen unbekannter Personen eine Gewissensprüfung als völlig normal betrachtet: «Wir Naturfreunde, sagte ein Genosse, der selbst in Dachau war, haben uns in diesen 12 schrecklichen Jahren bewährt, und wir werden auch weiterhin dafür sorgen, dass wir die Wanderorganisation der sozialistischen Arbeiterschaft bleiben.»9 In der Schweiz blieb zwar ein festgelegtes Aufnahmeprozedere in vielen Sektionen statutarisch verankert, erstaunlicherweise bis heute. Aber eine eigentliche Gewissensprüfung fand vermutlich auch zur Nazizeit nirgends statt.
Wer heute Naturfreundehäuser oder Ortsgruppen in den damals so wichtigen USA sucht, findet in San Franzisco, in Oakland und 500 Kilometer südlicher in LA noch Unverzagte. Die Ostküste ist nicht mehr vertreten. Das war nicht immer so. Ausserhalb der Schweiz gab es zur Nazizeit in wahrnehmbarem Ausmass nur in den USA noch Naturfreunde: an der Ostküste, im ganzen Rust Belt und an der Westküste. Es mag amüsant tönen, wenn US-Naturfreunde beispielsweise rapportierten, dass die Amerikaner vom Wandern nichts halten und lieber mit dem Auto in die Natur fahren.
Dieses Haus war Eigentum des Touristenvereins ‚Die Naturfreunde‘ und wurde uns im Jahre 1933 gestohlen.
Die US-Naturfreunde scheinen sich zumindest in der ersten Einwanderungsgeneration noch nicht ganz als «Amerikaner» gefühlt zu haben. Das hatte Vor- und Nachteile. Vorteilhaft war sicher am Ende des Zweiten Weltkrieges, dass sie aus US-behördlicher Sicht als Verfolgte (der Nazis), somit als «good boys» galten, obwohl die überwiegende Mehrzahl irgendwie «Deutsch» war. Es waren denn auch diese Männer und Frauen, die sich gleich nach Kriegsende an die US-Behörden wendeten und um schnelle Rückgabe der Naturfreundehäuser in Deutschland und Österreich baten. «Die amerikanische Landesleitung hat im September 1945 nach Verständigung des Kriegsministeriums und des Staatssekretärs an die deutschen Naturfreunde einen Appell gerichtet, sich wieder zu organisieren. Wie uns die amerikanische Landesleitung mitteilt, haben beide Ministerien volles Verständnis dafür gehabt. Wenn alle Beschränkungen aufgehoben sind, wollen die amerikanischen Naturfreunde […] mit finanziellen Mitteln helfen.» Das geschah denn auch, zusammen mit den Schweizern. Gemeinsam konnte so viel gesammelt werden, dass für «sechs Landesgruppen je eine vollständige Hausausstattung für je 70 Personen zur Verfügung gestellt werden konnte.»10
Neue dunkle Wolken am Horizont
Noch gab es auch aus den amerikanisch besetzten Zonen Zeichen des Wohlwollens: «Bald wurde die Ortsgruppe Garmisch wieder gegründet. Die amerikanische Militärregierung zeigte überhaupt grosses Entgegenkommen; obige Ortsgruppe erhielt von ihr sogar eine gutausgebaute Schutzhütte (Haus) am Kreuzjoch (Zugspitzegebiet) pachtweise überlassen, die später in unser Eigentum übergeht.»11 Die «Militärregierung» vor Ort erkannte den für das zerstörte Deutschland politisch-kulturellen Wert der Naturfreunde. Im Gegensatz zur amerikanischen Gesellschaft zu Hause. Die Nachteile folgten den kurzfristigen Vorteilen geflüchteter Naturfreunde auf dem Fusse. Die Hetze gegen wirkliche und vermeintliche Kommunisten traf die US-Naturfreunde im Mark. Linke generell wurden nicht zuletzt mittels Verschwörungstheorien ausgegrenzt, vorgeladen, verhört und als «bad boys» absurd bestraft. Diese Hetze, die in weitesten Teilen der US-Bevölkerung salonfähig war und vor Intellektuellen und Künstler:innen (es traf beispielsweise auch Thomas Mann und Charly Chaplin) nicht Halt machte, war schon um 1940 herum angelegt. Sich als Proletarier:in verstehende Geflüchtete, und dazu gehörten die Naturfreunde, wurden als Bedrohung wahrgenommen, vermutlich weil man bei den in allerbescheidensten Verhältnissen lebenden Menschen Aufruhr befürchtete. Ob zu Recht, sei dahingestellt.
Die amerikanische Militärregierung zeigte überhaupt grosses Entgegenkommen; obige Ortsgruppe erhielt von ihr sogar eine gutausgebaute Schutzhütte (Haus) am Kreuzjoch (Zugspitzegebiet) pachtweise überlassen, die später in unser Eigentum übergeht.
Ein Brief nach Zürich: «Neuyork, 24. Januar 1946. Liebe Freunde! Vor wenigen Tagen kam nach langer, langer Unterbrechung die erste Schweizer Post. Drei Nummern des ‚Naturfreund‘ auf einmal. In einem hässlichen, dunkeln Vorort der menschenwimmelnden Riesenstadt, in einer kleinen Wohnung, von deren Fenstern aus kein noch so kleines Stück Natur, kein Baum und kein Strauch zu sehen ist, sassen wir und liebkosten die Blätter – ich kann es nicht anders nennen. Meine Frau weinte. Walther Victor»12
Nicht nur in den USA, sondern auch in der russisch besetzten Zone waren erste Spannungen zu verzeichnen. Vorsichtig und durchaus zwischen die Zeilen formulierend: «Wir Dresdner Naturfreunde und Bergsteiger sind in der Einheitstouristenbewegung vereint. Alle Funktionäre sind Genossen, somit Antifaschisten, aber naturbegeisterte Menschen … [?]»13 Es ist hier nicht der Platz, die Geschichte des geteilten Deutschlands zu erzählen, dazu aber wenigstens: An beiden Enden der Welt und des politischen Spektrums, von McCarthy bis Stalin – die Naturfreunde gerieten schon in den ersten Nachkriegsjahren bereits wieder zwischen Hammer und Amboss. War nun auch die naturfreundliche Ruhe in der Schweiz dahin?
Alle ausschliesslich mit Jahrgang und Seitenzahl bezeichneten Zitate stammen aus den angegebenen «Naturfreund»-Sammelbänden. Zusätzlich konsultierte Quellen werden mit ihrem jeweiligen Titel ausgewiesen.