Die Flucht der Verbandsleitung in die Schweiz
Während der nationalsozialistischen Herrschaft waren die Naturfreunde in Deutschland und Österreich verboten. Um das Überleben der Bewegung zu sichern, wurden das Vermögen und die Akten in einer gefährlichen Aktion mit Schweizer Unterstützung von Wien nach Zürich geschmuggelt.

Die Frage, wie der Schweizer Landesverband in den späten Zwanzigerjahren aus internationaler Perspektive im Mitteilungsheft Erwähnung fand, ist einfach zu beantworten: überhaupt nicht. Uns erstaunen oder gar erschüttern muss das nicht. Denn gleich wie die regelmässigen Kurzmitteilungen aus vielen anderen Ländern bezogen sich die meistens freudigen Kurztexte auf Ortsgruppen. Der scheinbar nicht interessierende Schweizer Landesverband*, wie auch die seltene Erwähnung der österreichisch/deutschen Reichsverbände, ist Tatsache. Keine Frage, es waren die Ortsgruppen, die freudig als Zellen des Wachstums wahrgenommen wurden. Ein Wachstum, über das wir uns heute nur wundern können. Die Mitgliederzahlen wuchsen und wuchsen und mit ihnen die Gründung von Ortsgruppen. Und fast unglaublich war auch die Kadenz der Errichtung von Naturfreundehäusern. Die internationalen Naturfreunde nannten regelmässig zwei, drei, vier neue Häuser ihr Eigen, gefühlt im Quartalsrhythmus. Die Erfolgswelle schwappte auch in die Schweizer Industriezonen.1**
Der inzwischen schon sechsjährige Schweizer Landesverband traf erst 1931 auf redaktionelles Interesse: «[…] wurde der Entwicklung des Gesamtvereins und seiner Gaue die grösste Aufmerksamkeit und Förderung durch unsere Ortsgruppe [Basel] entgegengebracht. Zweimal beherbergte Basel die Gauleitung Westschweiz. Das erstemal von 1910 bis 1916, das zweitemal von 1923 bis zur Verschmelzung der beiden Gaue Ost und West zu einem Landesverband im Jahre 1925 […].»2 Im gleichen Beitrag, verfasst von R. Weinberger, Basel, ist vor allem die Schilderung lesenswert, wie das grosse Naturfreundehaus Passwang geplant, gebaut und erfolgreich betrieben wurde. Eine damals gewaltige Leistung, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit des ersten Weltkrieges ihresgleichen sucht.
Es ist auf dem Hintergrund dieser Erfolgsgeschichte nahezu unerklärlich, dass sich die brutale Ausschaltung der Naturfreunde in Deutschland/Österreich im Mitteilungsblatt «Der Naturfreund», in den wenigen Jahren vor der 1933er-Katastrophe in Berlin und 1934 in Wien nur dürftig abzeichnete. Nachzulesen sind zwar für die damalige Presse nicht unübliche Aufrufe wie: «Meidet die [völkischen] Heimwehrwirte! Es gibt eine Reihe von Wirten, die als stramme Hahnenfedler auf die rote Arbeiterbagage schimpfen. Wir haben keinen Grund, solchen Gesellen unser Geld ins Haus zu tragen. […] Ein arger [Kriegs-]Hetzer und Leiter der Heimwehr ist beispielsweise der Herr Westermayer in Raach bei Gloggnitz.»3 Und gelegentlich arteten die redaktionellen Scharmützel in wortgewaltige, nicht selten amüsante Tiraden gegen «kleriko-faszistische» Pfaffen, Römlinge, Kriegshetzer und «Heimwehrer» aus, aber die Schilderung wirklich krimineller Vorkommnisse finden wir erst ab Jahrgang 1931, dann allerdings in erschütternder Weise: «Die Nazi als Arbeiterfreunde. […] Mit welchem Recht sich die Nationalsozialisten als eine Arbeiterpartei bezeichnen, ist uns schon immer als ein Rätsel erschienen. Dass sie sich diesen Namen nur zugelegt haben, um die Arbeiter zu spalten, wird immer klarer. – Die Hitler-Partei ist aus dem Deutschen Reichstag ausgezogen, welche Pläne verfolgt sie? Die Putschgelüste der Nationalsozialisten sind uns nur zu gut bekannt.» Und weiter wird eine der vielen Drohungen zitiert, die höhnisch eingeleitet wird und unverhohlen mit einem Brandstiftungsplan endet: «Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Genosse, dass wir Ihnen und dem übrigen Proletenpack die Verseuchung des Taunus durch die sogenannten Naturfreundehäuser versalzen werden. Tut euch nicht so gross mit euren Baracken. Ehe noch zwei Monate ins Land gehen, kräht der rote Hahn in Oberreifenberg, in Brombach, am Sandplacken. Ihr dreckiges Proletenpack gehört in die Fabriken, in die Zuchthäuser und an den Schweinetrog, aber nicht in Gottes freie Natur. Deutschland erwache, erwache, erwache!»4
Gründungen von Ortsgruppen (OG) namentlich erwähnt in den Heften 1925–1930 (chronologisch, aber vermutlich nicht vollständig): OG Oberengadin; OG Neuchâtel; neues Haus Bühl der OG Höngg; OG Weinfelden; OG Delsberg; OG Köniz-Wabern; OG Wetzikon; OG Zofingen; OG Stäfa; OG Grenchen; neues Haus auf dem Margarethenberg bei Landquart der OG St. Gallen; NFH Tscherwald der OG Örlikon-Seebach (Bilder und Bericht); OG Herzogenbuchsee; NFH Sonnenberg (Bericht); OG Pratteln; NFH Rietlig (Bericht); OG Laupen; OG Erlenbach; NFH Gorneren (Bilder und Wanderbericht); OG Moutier; OG Tramelan; OG Hasle-Rüegsau; OG Lugano.
In den Heften 1931–1935: 25-jähriges Bestehen der OG Bern, mit NFH Selibühl (Bild); OG Obersiggenthal; OG Münchwilen-Sirnach; OG Altstätten; OG Goldau; NFH Rietlig (Bericht und Bild); 25-jähriges Bestehen der OG Winterthur, mit NFH Seegüetli (Bericht und Bild); OG Wangen an der Aare; OG Muri Aargau; OG Tavannes; OG Roggwil; OG Küttigen und Umgebung; OG Bremgarten; NFH Albishaus (Bild); 25-jähriges Bestehen der OG Schaffhausen; ’neue‘ OG Basel; Einweihung der Buchberghütte der OG Schaffhausen (1934, S. 25; Bericht und Bild); NFH Elsigenalp (Bild); NFH Schwägalp (Bild); OG Murgenthal; 25-jähriges Bestehen der OG Horgen, mit NFH Hohfläsch (Bericht und Bild); NFH Plaine Joux der OG Genf (Bericht und Bild); OG Gossau; OG Zollikofen; OG Bischofszell.
Hoffnungslos unterlegene Arbeiterorganisationen
Hatten die Naturfreunde die Vorzeichen nicht erkannt? Doch, aber zu spät. Vielleicht wollte man die Leserschaft nicht mit schlechten Nachrichten eindecken. Und ganz offensichtlich hatte man sich einfach auch überschätzt: «Noch nie ist das Proletariat so stark geworden, noch nie wuchsen seine Kräfte so sehr wie im Kampf.»5 Und in heute erschreckender Naivität schreiben die Naturfreunde an gleicher Stelle: «Viel Feind, viel Ehr.» Die Tragweite und vor allem die Geschwindigkeit des Umsturzes konnte vermutlich niemand realistisch voraussehen. Schockierend offenbarte sich im Februar 1934 in Wien, dass die Wehrkraft der Arbeiterorganisationen in sogenannten Schutzbünden den militärisch durchorganisierten und gewalterprobten «Hakenkreuzlern» gegenüber hoffnungslos unterlegen war. Zudem wurden die Putschisten von der klerikal-monarchistischen Regierungselite mehr als nur geduldet. In den zwei Jahren ab 1931 war es schlicht unmöglich, den 15-jährigen Vorsprung der militanten Nationalsozialisten aufzuholen. Dass österreichische Naturfreunde noch nach ihrer diskussionslosen Ausschaltung, als ihre über hundert Häuser beschlagnahmt und Funktionäre ohne jede Rechtsgrundlage eingekerkert wurden, hoffnungsvoll juristische Demarchen an die Regierung richteten, dokumentiert deren Naivität.
Hilfe aus der Schweiz
Im Nachhinein mag erstaunen, dass trotz umfassender Niederlage schon im März 1934 das liquide Vermögen bei der Bank abgehoben und die Akten aus dem zentralen Wiener Büro nach Zürich geschmuggelt werden konnten, zumal diese Eventualität erst im September 1933 ins Auge gefasst wurde. Wie der Coup im Detail tatsächlich gelang, kann im Mitteilungsblatt nicht nachgelesen werden. Indizien führen uns aber zu einem Fluchthelfer, dessen Würdigung mit kleinen Ausnahmen6 in den Geschichtsbüchern noch fehlt: Walter Escher aus Zürich (nicht zu verwechseln mit Alfred Escher & Co.). Walter Escher war schon in der Frühzeit der internationalen Naturfreundeorganisation der dauerhafte Vertreter der Schweiz. In Berichten und Aufsätzen wird er als ruhig, absolut zuverlässig und «gewohnt liebenswürdig» geschildert.7 Insbesondere anlässlich der XI. Hauptversammlung [der internationalen Organisation], die 1928 in Zürich und Rapperswil durchgeführt wurde und mehrere Tausend Teilnehmende zählte, bewies Escher in stoischer Ruhe sein grosses Organisationstalent. Der Bericht über diese internationale Zusammenkunft8 ist lesenswert, auch wenn uns heute das damalige Pathos etwas befremdet.
Dem Schweizer Landesverband, namentlich Walter Escher und Ernst Moser (Zürcher Nationalrat), wurde durch die Sicherstellung der liquiden Mittel und des Naturfreundearchivs aus Wien eine gewaltige Bürde übertragen. Werden es die Schweizer richten können? Wie verhalten sich die verbliebenen Landesverbände, die (noch) nicht unter Nazi-Diktatur standen? Wie agiert die zu Deutschland und Österreich vergleichsweise kleine Schweizer Naturfreundeschar, wenn sie plötzlich zur Drehscheibe des internationalen Verbandes wird?
Alle ausschliesslich mit Jahrgang und Seitenzahl bezeichneten Zitate stammen aus den angegebenen «Naturfreund»-Sammelbänden. Zusätzlich konsultierte Quellen werden mit ihrem jeweiligen Titel ausgewiesen.