Gründung von Landesverbänden – antizyklisch oder doch logisch?
Die Naturfreunde verstehen sich als internationale Organisation mit gemeinsamen Idealen. Trotzdem kommt es in den ersten Jahrzenten des 20. Jahrhunderts in der Bewegung zur Gründung von Landesverbänden – auch in der Schweiz. Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden.

Bis 1925, dem Gründungsjahr des Schweizer Landesverbandes, waren die Naturfreunde europaweit in deutschsprachigen Ortsgruppen organisiert. Zusammenschlüsse entlang von Staatsgrenzen standen nicht zur Diskussion. Klar, es gab Ortsgruppen im Raum der damaligen Tschechoslowakei, in Polen, Ungarn und Rumänien, deren Mitglieder natürlich mehrsprachig waren. Namentlich böhmische Ortsgruppen waren primär deutschsprachig, sprachen aber im täglichen Umgang in ihrem Lebensraum mit grosser Wahrscheinlichkeit mühelos Tschechisch. Und die neu, resp. wieder gegründeten Ortsgruppen im Elsass (z. B. Colmar mit 70 Mitgliedern), die politisch erneut zu Frankreich gehörten, konnten an die traditionelle Mehrsprachigkeit anknüpfen. Selbst in Luxemburg, wo in der Montanindustrie noch keine Arbeitslosigkeit herrschte, konnten zugewanderte deutsche Arbeiter eine Ortsgruppe gründen, die 1926 stolz meldete, dass sie auch von der «einheimischen Bevölkerung» akzeptiert werde.
Die Ortsgruppen verstanden sich fraglos als Teil einer grenzüberschreitenden Bewegung. In ihrem Selbstverständnis würden sie sich, im heutigen Sprachgebrauch, wohl als eine ‚internationale Selbsthilfe-Organisation‘ bezeichnen. Genau so verstanden sich auch die damaligen Ortsgruppen in der Schweiz. Mann, ja Mann, verstand sich als Arbeiter, gegebenenfalls als Wandergeselle oder Fremdarbeiter und somit waren Grenzen zwar hinderlich, aber kein Hinderungsgrund für das Gefühl umfassender Zusammengehörigkeit. Die Tragik in den Kriegsjahren 1914–18 war denn auch, dass sich Arbeiter als Soldaten in den Schützengräben verfeindeter Monarchien gegenseitig töten mussten. Die Gefallenen wurden im Mitteilungsblatt «Der Naturfreund» namentlich erwähnt. Die letzte «Kriegs-Verlustliste» erschien Mitte 1920. Im ersten Weltkrieg starben 1255 von Ortsgruppen gemeldete Naturfreunde in einem Krieg, den sie nie gesucht und schon gar nicht zu verantworten hatten. Das hatte auch Auswirkungen auf Schweizer Ortsgruppen: «Unsere Generalversammlung fand am 9. Jänner 1916 statt. Der Jahresbericht zeigte, dass auch unsere Ortgruppe [Horgen-Wädenswil] unter der Kriegsfurie zu leiden hat; so hat sich die Mitgliederzahl vom Jahre 1914 bis Ende des Berichtsjahres 1915 von 44 auf 31 vermindert. Es hatten bis Ende 1915 achtzehn Genossen in ausländischen Kriegsdienst einzurücken, wovon drei unserer Mitglieder den Tod auf dem Schlachtfelde fanden.»1 Eindrücklicher als in diesen einfachen Worten kann das absurde Kriegsdrama kaum geschildert werden.
«Unterwanderung durch kommunistische Funktionäre»
Die Naturfreunde litten schon unter dem ersten Weltkrieg, von der nationalsozialistischen Kriegsfurie noch ganz zu schweigen. Die Naturfreunde waren direkt vom Soldatentod betroffen, selbst wenn sie fern der nächsten Front lebten. Immer wieder geben sie in ihrem Mitteilungsblatt der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende Ausdruck. Grenzlosigkeit war Teil ihres Ideals einer friedliebenden, natürlichen Welt. Wie kommt es, dass nun scheinbar plötzlich Zusammenschlüsse nach Massgabe von Staatsgrenzen erfolgten? Lassen sich in den Heften der Naturfreunde dazu Erklärungen finden?
Im Sammelband 1925 wird die Gründung des Schweizer Landesverbandes nirgends erwähnt. Im Gegenteil, weiterhin ist von «Schweizer Gauen» die Rede, womit eine regionale Struktur gemeint ist. Dass kaum zehn Jahre später im Hitler-Deutschland die Begriffe Gau, Gauleiter usw. als organisatorische Terrorelemente auftauchen, soll uns nicht beirren. Denn davor wurde ein «Gau» noch nicht so sehr als formal begrenztes Territorium, als vielmehr als natürlich zusammenhängende Gegend verstanden. Immer wieder ist denn auch im Mitteilungsblatt von «Alpengauen» die Rede, was für Berggebiete sowohl in Österreich als auch in der Schweiz, Frankreich, im damaligen Jugoslawien oder in den Karpaten steht. Im Schweizer Kontext war die Gauversammlung sogar so etwas wie eine Tagsatzung, die im Turnus einen Vorort, d. h. eine Versammlungsleitung durch eine grössere Ortsgruppe wählte.2 Was war also die Gründungsursache des Landesverbandes?
Es hatten bis Ende 1915 achtzehn Genossen in ausländischen Kriegsdienst einzurücken, wovon drei unserer Mitglieder den Tod auf dem Schlachtfelde fanden.
Zwei scheinbar völlig unterschiedliche Themen prägten die [internationale] Zehnte Hauptversammlung 1925: Skisport und Dezentralisierung. Das mag erstaunen, hat aber auf dem Hintergrund von weiteren schwelenden Konflikten eine interne Logik. Auch die Alkoholfrage begleitete die Naturfreunde über Jahrzehnte. Davon zeugen die wiederkehrend moralisierenden Beiträge im Mitteilungsblatt, welche die wohl nicht aus der Welt zu schaffende Ausschankpraxis vieler Naturfreundehäuser anprangerten. Die in der Gründungsgeschichte 1895 angelegte Bekämpfung der (Alkohol-)Misere verlieh den aufsässigen Mahnern jedenfalls noch viele Jahrzehnte lang Legitimation.
1925 ging es darum, interne Konflikte nicht weiter eskalieren zu lassen. Das Jahr 1924 wird im Mitteilungsblatt 1925 der international organisierten Naturfreunde als Krisenjahr mit einem grossen Mitgliederschwund beschrieben. Es müssen demnach noch viel mehr Austritte als der zahlenmässige Verlust von 1255 Gefallenen beklagt worden sein. Der Grund des Mitgliederschwundes war der Kampf gegen die Unterwanderung durch kommunistische Funktionäre, die erfolgreich Ortsgruppen instrumentalisierten und Vereinsvermögen abzweigten. Ausschluss militanter Einzelpersonen sowie Zwangsauflösung einzelner Gau-Verbände waren die Folge. Ausgerechnet im Rahmen der Würdigung des 30-jährigen Bestehens musste die Auflösung mehrerer Gau-Verbände beklagt werden. Es herrschte aber nicht nur Krisenstimmung3, sondern angesichts des Handlungsbedarfes auch Verbesserungsbereitschaft. Zwar mutet es angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Not seltsam an, dass sich die Naturfreunde 1925 eingehend mit der Professionalisierung des Skifahrens befassten. Aber die Schneesportfrage wurde sehr emotional, sozusagen als Gewissenfrage verhandelt und sorgte noch jahrelang für Missstimmung. Aus heutiger Sicht empfinden wir die damalige Streitfrage, ob eher «Wintersport oder Wintertouristik» zu propagieren sei, als Luxusproblem. Die Schweizer Ortsgruppen waren am Disput mitschuldig. Geografisch bedingt stand ihnen der Bergsport näher als den viel zahlreicheren Ortsgruppen fern der Alpen, die das notorische Schanzenspringen und die Skirennen wortgewaltig ablehnten und als unethischen Wettbewerb verurteilten.4 Die Naturfreunde der Alpengaue gerieten zudem mit einem weiteren Ansinnen in eine bedrohliche Schieflage. Sie schlugen im Rahmen der Zehnten Hauptversammlung den nicht-alpinen Naturfreunden vor, auf den Bau von ’nur-Ferienheimen‘ zu verzichten und das Geld besser für «alpine Hütten» auszugeben. Das Entsetzen der nicht-alpinen Naturfreunde war, wohl auch aus heutiger Sicht, berechtigt.
Schöner Skifahren
Was wir aus heutiger Sicht hingegen besser nachvollziehen können, war die Zerreissprobe zwischen revolutionär gesinnten Arbeiterfunktionären auf der einen, und der Anfeindung durch gewaltbereite, völkisch gesinnte Nationalisten auf der anderen Seite. Beklagt hatte sich die Redaktion des Mitteilungsblattes namentlich über die «hakenkreuzlerische Schmutzpresse»5, aber auch über die «zersetzenden und zerstörenden Wirrköpfe» in den eigenen Reihen. Wie so oft versuchten die Naturfreunde, die ärgsten Wogen zu glätten. Bei Skirennen sei doch bitte die «stilvolle Anwendung anstatt die kürzeste Laufzeit» zu bewerten. Und vermutlich zwecks Minderung des Klumpenrisikos gaben sie sich eine neue «Verfassung», welche dezentrale und ausdrücklich demokratische Strukturen erlaubte: «Im Sinne demokratischer Verwaltung wird […] den Ländern und Reichen durch Schaffung von ziemlich selbständigen Länder- und Reichsleitungen weitester Spielraum für freie Gestaltung […] gewährt.»6 Das war ein Novum in einer Zeit hierarchischer Normalität. In der Folge war der Begriff ‚Reichsverband‘, zumindest bis zur Katastrophe des nationalsozialistischen Dritten Reiches, noch nicht negativ belastet. In der seit 1848 antimonarchischen Schweiz nannte sich der Zusammenschluss der Ortsgruppen ‚Landesverband‘.
Denken wir an den heutigen, komplett kommerzialisierten Skirennsport, stellen wir fest, dass die edle Philosophie ‚Skirennen ohne Zeitmessung‘ eine krachende Niederlage erlitten hat. Hingegen war die Strukturreform von Dauer. Denn die Abtretung von Macht, weg von der zentralen Führung hin zu den nun entstehenden Landesverbänden/Reichsverbänden, blieb im Grundsatz bis heute erhalten.
Fazit: Die Gründungsursache des Schweizer Landesverbandes bleibt zwar interpretationsbedürftig, ist aber intuitiv nachvollziehbar. Die Gründung wurde sorgfältig, ohne Wenn und Aber eingeleitet.