Eine kleine Waldgeschichte
Einst ein artenreicher Urwald wäre der Schweizer Wald bis Ende des 19. Jahrhunderts beinahe komplett abgeholzt worden. Seither ist er in der Erholungsphase – die aber noch längst nicht abgeschlossen ist.
Die Schweiz ist ein Waldland. Bis der Mensch hierzulande damit begann, das Land zu bestellen. Würden sich die Menschen aus der Schweiz zurückziehen, wären ratzfatz wieder 74 Prozent der Landesfläche bewaldet. Aber der Reihe nach. Blicken wir zurück in die jüngere Geschichte des Schweizer Waldes, aus der sich der heutige Zustand entwickelt hat. Als sich vor 12 000 Jahren die Eisdecke über der Schweiz zurückzog, machten sich zuerst Birken, später Waldföhren, Hasel, Ulmen, Eichen, Linden, Eschen und Erlen daran, das Schweizer Mittelland einzunehmen. Im Alpenraum breiteten sich Fichten, Föhren, Arven und Lärchen aus, die Waldgrenze stieg. In den folgenden Jahrtausenden etablierte sich im Mittelland der Mischwald, wie wir ihn ungefähr heute kennen, seit etwa 5000 Jahren mit Buchen, die in Buchenmischwäldern lange Zeit die Vorherrschaft übernahmen. Damit war die Schweiz bis vor 5000 Jahren weitgehend von einem dichten, artenreichen Urwald bedeckt. Bis die Menschen hierzulande im Neolithikum (vor etwa 5500 Jahren) begannen, als Bauern zu leben. Nun begann, zwar lange nur zaghaft, die Rodung des Waldes für Ackerflächen und Viehwirtschaft, Holz wurde zu einem wichtigen Baustoff und Energieträger, es entwickelten sich allmählich neue Landschafts- und Vegetationsformen wie Wiesenpflanzen- und Waldrandfluren.
Mit dem Eintreffen der Römer in der Schweiz nahm die Rodungstätigkeit* Schwung auf und – Achtung Zeitraffer – erreichte in der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ihren traurigen Höhepunkt. 1851 waren von der Fläche der Schweiz, 41 300 km2, noch gerade mal 770 km2 mit Wald bedeckt, auch die Bergwälder waren fast komplett verschwunden – und mit ihnen auch ein grosser Teil der dort heimischen Fauna**. Der Wald in der Schweiz hatte seinen Tiefpunkt erreicht.
*Die rechtlichen Aspekte der Waldnutzung in der Schweiz, die sich über die Jahrhunderte stetig änderten, werden in diesem Artikel nicht behandelt. Sie würden den Rahmen sprengen.
**Diese Entwicklung spielte sich in anderen Ländern, die in dieser Zeit industrialisiert wurden, ähnlich ab. Aufgrund der fortschreitenden Umweltzerstörung wurden aus der Zivilgesellschaft heraus in der Schweiz und international erste Naturschutzorganisationen gegründet (z. B. 1895 die Naturfreunde, 1909 Pro Natura) und der Ruf nach geschützten Gebieten wurde in vielen Teilen der Welt laut. So kam es 1914 auch zur Gründung des Schweizer Nationalparks. Die Tiere für den Park klaute man übrigens in Norditalien, weil der Wildbestand in den Schweiz Alpen fast ausgerottet worden war.
Kohle «rettet» Wald
Nun begann das grosse Umdenken. Im Fokus stand dabei vorerst die schiere Menge an Holz, die noch geschlagen werden kann. Man hat eingesehen, dass es bei diesem Tempo der Rodung bald keinen Nachschub mehr geben würde. Das Prinzip der Nachhaltigkeit setzte sich durch, das in seinem Grundsatz tatsächlich von der Forstwirtschaft ersonnen worden war und das für den Wald besagt, dass nicht mehr Holz geschlagen werden darf, als nachwachsen kann. Noch nicht im Blick hatte man die Schutzfunktionen von Wäldern gegen Erosionen. Doch das sollte sich bald ändern.
Xavier Marchand (1799–1859), Oberförster in Pruntrut, Kantonsoberförster des Kantons Bern und Professor für Forstwirtschaft an der ETH Zürich, postulierte 1849, dass der Staat die Pflicht habe, die Abholzung im Gebirge zu verhindern, wenn dadurch andere Landesteile gefährdet würden. Sein Postulat wurde von weiteren Wissenschaftlern aufgenommen, die auf die prekäre Situation in den Alpen ohne Schutzwälder hinwiesen. Nach einer grossen Überschwemmung 1868 wurde 1874 der revidierten Bundesverfassung Artikel 24 hinzugefügt, der dem Bund das Recht zur Oberaufsicht über die Wasserbau- und Forstpolizei im Hochgebirge gab (1897 wurde der Geltungsbereich «Hochgebirge» durch «ganze Schweiz» ersetzt). Damit erhielt der Bund die Möglichkeit, die nachhaltige Waldnutzung qua Verfassung anzuordnen. Dieser Verfassungsauftrag wurde dem Eidgenössischen Forstinspektorat übertragen, das nach vielen Namensänderungen schliesslich zur Abteilung Wald im Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft wurde. Gleichzeitig gewann zu dieser Zeit die Kohle als Brennstoff in der Schweiz an Bedeutung, wodurch zwar massiv weniger Holz verbraucht, dafür aber der Klimawandel angeheizt wurde.
Neustart auf tiefem Niveau
Jetzt konnte die flächendeckende Wiederaufforstung des Schweizer Waldes beginnen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat der Waldbestand um 40 Prozent zugenommen. Problematisch an dieser Aufforstung war jedoch, dass man stark auf die raschwachsende Fichte setzte. Dies mündete vielerorts in beinahe monokulturellen Wäldern ohne vielfältig bewachsende Waldrandzonen, die anfällig sind auf Schadorganismen wie etwa den Borkenkäfer oder parasitäre Pilze. Ausserdem führten die schwer zersetzbaren Nadeln in diesen grossen Mengen zu einer Versauerung des Waldbodens. Druck auf den Wald kam aber auch von aussen durch Zersiedelung und Strassenbau, intensive Landwirtschaft und Luftverschmutzung. Durch Entwässerungen und Kanalisationen des Kulturlandes wurden ausserdem die meisten Auenwälder zerstört. Ein Umdenken begann mit der Totalrevision des Waldgesetzes 1991. Die Aspekte Walderhaltung, Infrastrukturförderung und Waldpflege wurden damals ergänzt durch den ökologischen Schutz und die Förderung der Waldwirtschaft. Heute bedeckt der Wald gut 30 Prozent der Landesfläche und wird von 32 000 verschiedenen Lebewesen besiedelt, d. h. knapp 40 Prozent aller heimischen Tier- und Pflanzenarten leben im Wald. Etwa 5 Prozent der Waldfläche sind Waldreservate, in denen sich der Wald natürlich entwickeln kann, 60 Prozent des Schweizer Wirtschaftswaldes gelten als naturnah.
Und wie geht es dem Wald heute beim näheren Hinsehen? Gemessen an einem europäischen Urwald fehlen in Schweizer Wäldern vielerorts alte Bäume, Totholz sowie Licht und es mangelt zwischen den Wäldern an Vernetzungsflächen. An den 117 000 km Waldrändern ist ausserdem bei 32 Prozent die Strukturvielfalt zu klein. Kommt hinzu, dass Wälder unter zu viel Stickstoff in der Luft leiden, unter invasiven Arten, standortfremden Baumzusammensetzungen sowie dem Klimawandel und dass der Druck auf den Wald durch Erholung und Tourismus stark zunimmt.
Diese etwas betrübliche Zusammenfassung soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den vergangenen knapp 50 Jahren viel passiert ist in der Schweiz punkto Waldgesundheit. Dort, wo durchdachte Massnahmen zur Biodiversitätsförderung ergriffen werden, können sich die Wälder erholen. Und manchmal übernimmt die Natur das Zepter auch gleich selbst. So war beispielsweise auf den Flächen, die vom Sturm Lothar betroffen waren, die Pflanzenvielfalt 12 Jahre nach dem Ereignis dreimal höher als in Waldflächen, die nicht betroffen waren.
Quellen: Historisches Lexikon der Schweiz; Forum Biodiversität Schweiz, Akademie der Naturwissenschaften