Erstaunliches aus der Tierwelt
Können Tiere denken und fühlen? Diese Frage hat die Forschung wahlweise lange ignoriert oder schlicht verneint. In den vergangenen Jahrzehnten aber hat die Verhaltensbiologie genau hingeschaut und dabei erstaunliche Erkenntnisse gemacht. Tiere können denken und fühlen und sind dabei den Menschen sehr ähnlich.
Die Bilder, die sich die Menschen von Tieren und ihrem Verhalten machen, haben vorerst mehr mit den Menschen selbst zu tun als mit den Tieren an sich. Anders ist es nicht zu erklären, dass es bereits vor hundert Jahren Untersuchungen gab, welche bei Schimpansen intelligentes Verhalten nachwiesen; die Verhaltensbiologie diese Erkenntnisse in den folgenden Jahrzehnten jedoch unter dem Einfluss des Behaviorismus* ignorierte, bevor sie heute wieder neu nachgewiesen und State of the Art sind.
Sehr menschlich war auch die Vorstellung, die nach der Behaviorismus-Phase bis in die 1980er-Jahren vorherrschte, dass Tiere die besseren Menschen seien und sich stets zum Wohlergehen ihrer Art verhielten. Heute weiss man, dass Tiere immer dafür besorgt sind, ihre eigenen Gene weiterzugeben, und nicht das Wohl der Art im Blick haben. Wenn sie dieses Ziel durch Hilfsbereitschaft und Zusammenarbeit erreichen können, dann tun sie das. Wenn sie aber mit Nötigung, Aggression oder dem Töten von Artgenossen eher zu diesem Ziel kommen, dann werden sie diesen Weg wählen.
Der Blick, den Menschen auf die Tierwelt haben, und der sich immer auch in der Forschung spiegelt, hängt stark vom Mensch-Tier-Verhältnis ab, das in einer bestimmten Epoche gerade vorherrscht und sehr wandelbar ist. Solange also beispielsweise in der jüngeren Vergangenheit niemand oder nur wenige das Konzept «Nutztier» sowie die Massentierhaltung infrage stellte, kam man auch nicht auf die Idee, herausfinden zu wollen, ob Tiere Emotionen haben und eine Persönlichkeit. Erst die Kritik an der Ausbeutung von Tieren eröffnete den Blick auf ihr wahres Wesen – gemäss aktueller Forschung wohlverstanden. Damit der Mensch das Tier nicht mehr nur als ausschliesslich instinktgetriebenes Stück Fleisch wahrnehmen konnte, sondern als individuelle Wesen, musste er einen erkenntnistheoretischen Weg zurücklegen. Und er musste seine «Vormachtstellung» aufgeben, die ein altes dickes Buch ihm einst eingeräumt hatte, zugunsten der Einsicht, dass Tiere und Menschen einander viel ähnlicher sind, als lange Zeit angenommen. Wie ähnlich genau, soll die folgende Zusammenstellung zeigen.
*Behaviorismus
Unter Behaviorismus versteht man ein wissenschaftstheoretisches Konzept, das das Verhalten von Menschen und Tieren mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht und erklärt. Dabei interessiert nicht, was in einem bestimmten Wesen vorgeht, welche Gefühle oder Hormone sein Verhalten steuern. Betrachtet wird – verkürzt gesagt – nur, welche Reize welche Reaktionen auslösen.
Gehirn und Hormone
Mit den Säugetieren teilt der Mensch nicht nur einen Grossteil der Gene, sondern auch den Aufbau des Gehirns, der bei allen Säugetieren prinzipiell identisch ist. Fast bis ins kleinste Detail gleich sind vor allem die stammesgeschichtlich alten Teile des Gehirns (zu den neueren zählt man das Endhirn und vor allem seine Grosshirnrinde), etwa das limbische System, das für das Affekt- und Triebverhalten verantwortlich ist. Taucht beispielsweise eine Schlange auf, ergreifen Menschen, Schimpansen und Totenkopfaffen alle aus denselben, von Neuronen im Gehirn gesteuerten Prozessen, Beweggründen die Flucht. Gleich sind bei Menschen und Säugetieren auch die physiologischen Regulationssysteme, sprich die Hormone, die es dem Körper ermöglichen, mit Stress fertigzuwerden, sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen oder sich fortzupflanzen. Dazu gehören nicht nur Testosteron und Östradiol, sondern auch das Hormon der Liebe, Oxytocin, das bei den unterschiedlichsten Säugetieren wie beispielsweise Fledermäusen, Nashörnern und Delfinen nachgewiesen ist.
Wer Stress empfinden kann, wird auch unter Stress leiden, wenn er auftritt. Für Säugetiere sind dieselben sozialen Faktoren und Situationen stressig oder stressreduzierend wie für Menschen. Eine stabile soziale Umwelt sowie soziale Integration fördern das Wohlergehen, eine instabile führt zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit. Heute weiss man auch, dass nicht nur bei Menschen sondern auch bei Tieren stark prägende Lebensereignisse die Gene verändern können (Epigenetik) und diese veränderten Informationen an die Nachkommen weitergegeben werden.
Emotionen
Wirbeltiere haben Emotionen. Verantwortlich dafür ist wiederum das limbische System des Gehirns, das für die Erzeugungen und Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Die grundlegenden Emotionen wie Furcht, Angst oder Freude werden ausserdem bei Mensch und Wirbeltier durch die gleichen neuronalen Schaltkreise hervorgerufen und reguliert. Manche Tiere sind aber auch zu komplexeren Emotionen wie beispielsweise Eifersucht fähig. Man kann das etwa bei Hunden beobachten, wenn Herrchen oder Frauchen sich vor ihren Augen intensiv und ausschliesslich mit einem anderen, fremden Hund abgeben.
Tiere mancher Arten können sich auch ungerecht behandelt fühlen, d. h. sie haben ein Gespür für Fairness. Gezeigt werden konnte das etwa mit einem Experiment mit Kapuzineraffen. Die Tiere hatten gelernt, dass sie bei den Forschenden einen Spielstein gegen ein Stück Gurke eintauschen können und machten das mit Begeisterung. Wenn sie aber sahen, dass Artgenossen statt einem Stück Gurke eine Traube, ein Nahrungsmittel, das sie lieber mögen, erhielten, dann reagierten sie empört und machten bei diesem Tauschgeschäft nicht mehr mit.
Tiere haben und zeigen aber nicht nur Emotionen, sondern sie können auch die Gefühle von Artgenossen wahrnehmen, teilen und positiv beeinflussen, sie verfügen also über Empathie. Sowohl Säugetier- wie auch Vogelmütter erkennen, wenn ihr Nachwuchs gestresst ist und können ihn durch ihr Verhalten beruhigen. Beobachtet wurde auch eine Gruppe von Schimpansen, in der es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen war und ein Tier verprügelt und an den Rand gedrängt worden war. Daraufhin begab sich ein Gruppenmitglied, das am Konflikt nicht beteiligt war, zu diesem Tier, tröstete es und führte es zurück in den Gruppenverband. Vergleichbares Verhalten wurde auch bei Gorillas, Elefanten, Hunden, Saatkrähen und Kolkraben erkannt.
Intelligenz
Alle Tiere können lernen – zumindest die einfachste Form des Lernens beherrschen alle Tiere, nämlich die Gewöhnung. Weitverbreitet in der Tierwelt ist auch das Lernen durch Versuch und Irrtum. Tiere mit hochentwickelten Gehirnen wie Affen, Raubtiere, Elefanten, Wale, Rabenvögel, Papageien und Tintenfische können aber auch Situationen spontan erfassen, entsprechende Handlungsabläufe nachvollziehen und sich zielgerichtet verhalten. Das heisst, sie können denken. Ausserdem gibt es Tiere, die Werkzeuge einsetzen, diese selbst herstellen und bei Bedarf situationsangepasst verändern können. Es gab bei ihrer Art also Individuen, die solche Erfindungen gemacht haben und ihre Entdeckungen durch soziales Lernen weitergegeben haben. Das erklärt auch, warum verschiedene Gruppen derselben Tierart, die weit voneinander entfernt leben, unterschiedliche Fertigkeiten herausgebildet haben.
Wer die Frage nach der Denkfähigkeit stellt, landet bald auch bei der Frage nach dem Ich-Bewusstsein. Wer über ein Ich-Bewusstsein verfügt, sollte sich im Spiegel erkennen. Um das zu testen, färbt man einen Teil des Gesichts mit Farbe ein, ohne dass das Testwesen diesen Vorgang bemerkt. Menschenkinder erkennen ab anderthalb bis zwei Jahren beim Blick in den Spiegel, dass die Farbe in diesem Moment ein Teil von ihnen ist. Bei den Tieren bestehen Menschenaffen den Spiegeltest, aber u. a. auch Elefanten, Delfine, Pferde, Elstern und Putzerfische.
Tiere, die ein Ich-Bewusstsein haben, sollten auch die Perspektive eines Artgenossen einnehmen können. Bei Menschenaffen wurde diese Fähigkeit ebenso nachgewiesen wie bei Kolkraben. Diese berücksichtigen beim Futterverstecken, welche Artgenossen sich dabei beobachten. Sie kommen aber auch auf die Idee, das Futterverstecken nur vorzumachen, etwa mit einem Stein und das tatsächliche Futter an einem anderen Ort unterzubringen.
Persönlichkeit
Tiere einer bestimmten Art, auf die die gleichen Umwelteinwirkungen einwirken, verhalten sich nicht alle gleich. Ebenso wie bei Menschen spielen bei Tieren die genetische Ausstattung, die Sozialisation sowie Umwelt- und Lernerfahrungen bei der Ausprägung eines dauerhaften Charakters eine grosse Rolle. Man spricht deshalb heute in der Forschung von unverwechselbaren Tierpersönlichkeiten. Keine Maus ist wie die andere, jede Kohlmeise unterscheidet sich von ihren Artgenossen. Dieser Befund trifft auch auf Tiere in der Landwirtschaft zu, die sich deutlich und dauerhaft voneinander unterscheiden, selbst wenn sie gleich gehalten werden.
Gewalt
Jedes Tier will seine Gene weitergeben. Um dieses Ziel möglichst zu erreichen, verhält es sich je nachdem kooperativ oder aggressiv. Dieselben Tiere, die einen Sinn für Fairness haben, die Emotionen anderer verstehen und teilen, Gruppenmitglieder trösten und Konflikte mit ausgeklügeltem Vorgehen lösen können, werden zur Durchsetzung ihrer Interessen drohen und kämpfen, nötigen und vergewaltigen und auch Artgenossen, die eigenen Kinder oder Geschwister töten – wenn sie damit ihr «höheres» Ziel eher erreichen können.
Sexuelle Belästigung von Weibchen wurde u. a. bei Huftieren, Affen und Delfinen beobachtet, erzwungene Kopulationen bei unterschiedlichsten Tiergesellschaften, darunter Seeelefanten und Orang-Utans. Das Töten von Jungtieren kommt insbesondere bei langlebigen Säugetieren, die in festen Gruppen leben – darunter Affen, Nagetiere und Raubtiere – hauptsächlich dann vor, wenn fremde Männchen in den Sozialverband eindringen. Kindstötung kommt aber auch vor, wenn es zu wenig Futter gibt für alle.
Selbst Kriege führen gewisse Arten und unterscheiden sich auch dabei nicht von den Menschen. Berühmt geworden sind die «Kriege der Schimpansen», die Jane Goodall vor vierzig Jahren beobachtet hat. Dabei haben sich die Männchen einer grösseren Gruppe zusammengetan und im Laufe einiger Jahre alle Männchen einer anderen, kleineren Gruppe umgebracht. Eine Beobachtung, die offenbar kein Einzelfall ist.
Quellen: Der Mensch im Tier & Das unterschätzte Tier von Norbert Sachser (et al.)
Bibliographie
Norbert Sachser
Der Mensch im Tier
256 Seiten, 30.50 CHF
Rowohlt Verlag, Hamburg, 2018
ISBN: 978-3-498-06090-9
Norbert Sachser (Hrsg.)
Das unterschätzte Tier
224 Seiten; 19.90 CHF
Rowohlt Verlag, Hamburg, 2022
ISBN: 978-3-499-00956-3