Fichenskandal – Spione unter den Naturfreunden
Von der Jahrhundertwende bis in die späten 1980er-Jahre hat der Schweizer Staat diverse linke Aktivisten, Politikerinnen und Organisationen bespitzelt. Auch die Naturfreunde waren unter ständiger Beobachtung.
Die Fichenaffäre gilt als einer der grössten politischen Skandale der Schweiz. Eine Parlamentarische Untersuchungskommission des Schweizer Parlaments hatte 1989 ein umfangreiches Überwachungsprogramm aufgedeckt: Es beinhaltete rund 900 000 Dossiers über diverse Personen und Gruppierungen, die der Staat als «subversiv» eingestuft hatte. Unter den fichierten Personen waren viele Aktivisten der Partei der Arbeit (PdA) sowie andere Linke und Grüne. Aber auch Schweizerinnen, die sich in Jugendbewegungen engagierten, sich für Frauenrechte, Frieden oder gegen AKWs einsetzten oder schlicht für den Umweltschutz kämpften – sie alle galten als «Non-Konformisten» und damit als «suspekt».
Doch nicht nur Linke gerieten ins Visier der Überwacher: Wer persönlichen Kontakt mit einem «subversiven Element» hatte, wurde ebenfalls bespitzelt. Über die Hälfte der Fichen betraf Migranten und Asylbewerberinnen, die unter Generalverdacht gestellt wurden, die Ordnung der Schweiz mit kommunistischem Gedankengut «vergiften» zu wollen.
Nach Bekanntwerden des Skandals verlangten Tausende Personen Einsicht in ihre Akten. Die Dokumente enthielten jedoch viele schwarze Balken, um die Informanten zu schützen. Der Inhalt der Fichen war dabei sehr unterschiedlich: Manche enthielten sehr intime Details, die überwältigende Mehrheit bestand jedoch aus Nichtigkeiten, manche davon waren geradezu lächerlich. Darin enthalten waren neben Fakten viele Behauptungen, viel Halbwissen und viel Falsches, was die Akten zu einem sehr gefährlichen Instrument machte. Tatsächlich verloren aufgrund dieser übereifrigen Staatsschützerinnen unzählige Leute ihre Arbeit, ihr Zuhause, ihre Existenz.
Die Akte Naturfreunde*
Als damals sozialistischer Touristenverein waren auch die Naturfreunde den Staatsfreunden ein Dorn im Auge. Da viele Mitglieder auch bei der PdA aktiv waren, wurde der Verein genau unter die Lupe genommen. 1965 gab es einen Bericht über «den Touristenverein Naturfreunde, der sich gemäss der Statuten vom Herbst 1953 als Gegner jeder Diktatur bekennt. Damit hat sich der Landesverband in ideologischer Hinsicht von den linksextremistischen Mitgliedern distanziert. Trotzdem ist ihm eine eigentliche Säuberung nicht gelungen.»
Daher blieben der Verein und seine Mitglieder weiter unter Beobachtung. Unter anderem wurde penibel festgehalten, welche Aktivisten Vorträge bei den Naturfreundinnen hielten und wer dabei zuhörte.
Es gibt aber auch Aktennotizen zu weit harmloseren Aktivitäten, wie zum Beispiel der Pilzausstellung im Waldpark Reinacherheide von 1951. Das Pilzesammeln scheint dem Polizeiinspektorat äusserst suspekt gewesen zu sein, denn es gibt gleich mehrere Erwähnungen davon in den Fichen.
Auch über Spenden der Naturfreunde wurde ganz genau Buch geführt: Egal ob Hilfeleistungen an die streikenden Textilarbeiterinnen, die Interessengemeinschaft ehemaliger Spanienkämpfer oder ein Blumenstrauss und Geldbeitrag an die Prozesskosten des PdA-Politikers Emil Arnold – alles, was irgendwie als staatskritisch gedeutet werden konnte, war höchst verdächtig und wanderte in die Fichen.
Doch woher kamen diese Informationen? Oft wurden Zeitungsartikel, Flugblätter oder offizielle Communiqués als Quellen herbeigezogen. Doch ein genauerer Blick in die Akten zeigt, dass die Naturfreunde auch von Spionen infiltriert waren: So geschehen 1970, als ein Informant die Stelle als Reiseleiter der Naturfreunde Zürich-Albisrieden in einem Austauschprogramm mit dem polnischen Alpenverein «Polski Klub Gorski» annahm. Sein erklärtes Ziel: «Ich werde mir Mühe geben, meine Reisegruppe von irgendwelchen politischen Einflüssen fernzuhalten, noch unnötige Kontakte aufzunehmen.»
Reiseveranstaltungen ins Ausland sowie Skilager waren offenbar besonders interessant für die Behörden: Hier wurden die Namen aller Leiter, inklusive Rufname, Beruf, Geburtsdatum, Familienzugehörigkeit und Adresse erfasst. Diese Daten wurden auch regelmässig aktualisiert und quer referenziert.
Ins Visier der Ermittler geriet auch die «Basisgruppe 9», die im Sommer 1972 zu einem «Fäscht» im Naturfreundehaus Eichbühl in Zürich einlud. Das Fest mit Musik und Filmvorführung wurde der Kreiswache gemeldet und vom Spion «periodisch kontrolliert». Dieselbe Gruppe feierte ein halbes Jahr später erneut ein Fest im Eichbühl, woran rund dreissig Jugendliche teilnahmen. Der Informant hielt jeweils alle Autokennzeichen fest, inklusive Halternamen und Adressen. Beide Veranstaltungen verliefen ruhig und ohne Störung, dennoch wurde dem Hauswart Werner Schindel deswegen gekündigt, da er die beiden Feste angeblich erst ermöglicht hatte.
Generell wirken die Einträge der Fichen oft plan- und konzeptlos. Alles wurde festgehalten, egal ob relevant oder nicht und das teilweise sehr dilettantisch. Die Fichen sind für eine seriöse nachrichtendienstliche Auswertung grösstenteils unbrauchbar – sie sind vielmehr das «Krebsgeschwür» des Bünzlitums.
Der Fichenskandal ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte – er zeugt von einem Klima der Angst und des Misstrauens vonseiten der Behörden während des Kalten Krieges und führte zu einer ernsten Vertrauenskrise der Bürger und Bürgerinnen in den Staat.
*Auch die Naturfreunde hatten sich nach Bekanntwerden des Skandals um die Herausgabe ihrer Akten bemüht, die sich heute auf der Geschäftsstelle der Naturfreunde Schweiz befinden.