Magische Anziehung
Unterschlupf, Ritualplatz, Besuchermagnet, Weg in andere Welten: Höhlen sind mehr als nur Löcher im Berg. Auf Zwerge und Drachen trifft man bei ihrer Erkundung zwar nicht, trotzdem geht von ihnen eine ganz eigene Faszination aus.
Dass die Menschen einst in Höhlen lebten, ist eine beliebte Vorstellung. Dennoch ist sie wohl falsch. Der vorzeitliche Mensch war ein Jäger und Sammler; ein Nomade, der den Herden und Früchten hinterher zog und in zeltähnlichen Unterkünften lebte. Den klassischen Höhlenmenschen, der tagsüber sein Werk verrichtete und sich abends in die gemütliche Wohnhöhle zurückzog, gab es vermutlich nie. Mit ein Grund dafür ist, dass Höhlen alles andere als gemütliche Orte sind. Zwar eignen sie sich kurzfristig als Unterschlupf, um sich vor Wind, Wetter und anderen Gefahren zu schützen. Um dauerhaft in ihnen hausen zu können, sind sie aber zumindest in unseren Breitengraden zu kalt. Und in der Höhle ein wärmendes Feuer zu entfachen, sollte man tunlichst unterlassen, wenn man sich keine Rauchvergiftung einhandeln will. Dies dürfte wohl auch der «Höhlenmensch» schnell gelernt haben. Hinzu kommt, dass Höhlen in der Schweiz und in Europa gemeinhin recht feucht sind, weil bei ihrer Entstehung oft Wasser im Spiel ist.
Was Wasser alles schafft
«Etwa 99 Prozent aller Höhlen in der Schweiz sind Karsthöhlen», sagt der Geologe und Höhlenforscher Philipp Häuselmann. «Sie entstehen, wenn unterirdisch fliessendes Wasser Gips oder Kalkstein auflöst und dabei Hohlräume schafft.» Steter Tropfen höhlt eben den sprichwörtlichen Stein. Charakteristisch für Karstlandschaften sei denn auch das Fehlen von Oberflächengewässern – denn das Wasser verläuft unterirdisch. Höhlen können aber auch durch Vorgänge entstehen, bei denen Wasser keine Rolle spielt. «In der Schweiz sind tektonische Höhlen recht häufig: Hohlräume entstanden im Fels, weil sich das Gestein bewegte.» In seltenen Fällen, wie zum Beispiel bei den Höllgrotten in Baar, kann es sogar passieren, dass beim Aufbau der Gesteine Hohlräume bleiben. «Im Grund ist der Berg dann also um die Höhle herum gewachsen», sagt der Höhlenforscher. Solche Höhlen werden Primärhöhlen genannt.
In der Schweiz gibt es eine Vielzahl an Schauhöhlen, die Besuchenden offenstehen und meist Führungen unter fachkundiger Anleitung anbieten.
Beatenberg (BE)
Die St. Beatus-Höhlen am Thunersee sind die wohl bekanntesten Tropfsteinhöhlen der Schweiz. Der heilige Beatus soll dort einen Drachen vertrieben haben.
Besichtigungen: März bis Oktober
www.beatushoehlen.swiss
Réclère (JU)
Réclère bietet neben dem Dino-Park auch Tropfsteinhöhlen, die 1886 entdeckt wurden. In ihnen kann man den grössten bekannten Stalagmiten der Schweiz bestaunen.
Besichtigungen: Mai bis Oktober
www.prehisto.ch
Le Locle (NE)
Die Höhlenmühlen Col-des Roches in Le Locle sind europaweit einzigartig. Sie sind eine Art unterirdische Fabrik, angelegt in natürlichen und künstlichen Tunneln und Höhlen.
Besichtigungen: ganzjährig
www.lesmoulins.ch
Vallorbe (VD)
Diese Tropfsteinhöhlen wurden vom Fluss Orbe geschaffen. Höhepunkt der Höhlentour ist der Trésor des Fées, eine Sammlung von über 250 Mineralien aus der ganzen Welt.
Besichtigungen: März bis November
www.grottesdevallorbe.ch
St.-Maurice (VS)
Die Feengrotte war die erste öffentlich zugängliche Grotte der Schweiz. Etwa 25 000 Besuchende pro Jahr erfreuen sich nicht zuletzt am unterirdischen See mit seinem Wasserfall.
Besichtigungen: März bis November
www.grotteauxfees.ch
Saint-Léonard (VS)
In der Walliser Höhle findet man den mit 300 Metern Länge und 20 Metern Breite grössten natürlichen unterirdischen und befahrbaren See Europas.
Besichtigungen: März bis Oktober
www.lac-souterrain.com
Baar (ZG)
Die Höllgrotten sind 3000 bis 6000 Jahre alte Tropfsteinhöhlen, die vor 150 Jahren entdeckt wurden und – entgegen ihrem Namen – märchenhafte Anblicke bieten.
Besichtigungen: April bis Oktober
www.hoellgrotten.ch
Muotathal (SZ)
Das Hölloch ist mit rund 200 Kilometern Länge eine der weltweit grössten Höhlen. Sportliche können hier ausgedehnte geführte Expeditionen unternehmen.
Besichtigungen: ganzjährig
www.trekking.ch
Kobelwald (SG)
Die Kristallhöhle wurde schon 1702 urkundlich erwähnt. Dem Wasser des Höhlenbachs schreibt der Volksmund eine heilende Wirkung zu.
Besichtigungen: Ostersonntag bis Oktober
www.kristallhoehle.ch
Tröpfchen für Tröpfchen
Was schlicht Höhle genannt wird, ist meist eher ein Höhlensystem mit Kammern und Gängen unterschiedlichster Grösse, mit Schächten, Anstiegen, Bachläufen und manchmal sogar Seen. «Bei der Erforschung einer Höhle weiss man nie genau, was einen erwartet», erklärt Häuselmann. Eines der bekanntesten Höhlensysteme der Schweiz ist die St. Beatus-Höhle am Thunersee. Philipp Häuselmann verbrachte viel Zeit mit der Erforschung und Kartografierung des knapp zwölf Kilometer umfassenden Systems, dessen Alter auf über 400 000 Jahre geschätzt wird. Charakteristisch für die Beatus-Höhlen sind die zapfenartigen Gebilde, die überall von der Decke hängen oder aus dem Boden wachsen: die «Tropfsteine». «Auch sie entstehen durch Wasser und Kalk», erklärt der Geologe. «Wie es die Bezeichnung vermuten lässt, handelt es sich dabei um Kalkablagerungen des von der Decke tropfenden Wassers.» Je grösser ein Stalaktit – ein «Deckenzapfen» – oder ein Stalagmit – ein «Bodenzapfen» –, desto älter ist er. «Als Faustregel gilt: Die Formationen wachsen in hundert Jahren um zwei bis drei Zentimeter.» Je nach Umgebung und Umweltbedingungen kann das jedoch stark variieren.
Eingänge zu anderen Welten
Wenn vorzeitliche Menschen Höhlen nur als zeitweiligen Unterschlupf nutzten, wie erklären sich dann Relikte wie Tonscherben, die man in den Beatus-Höhlen und in vielen anderen Höhlensystemen gefunden hat? Forscher vermuten, dass Höhlen als Ritualstätten genutzt wurden, seltener auch als Begräbnisstätten. Tatsächlich kennt die Mythologie unzählige Geschichten, in denen Höhlen Verbindungen zu anderen Welten oder gar Zeiten darstellen. So soll zum Beispiel in einer Höhle im deutschen Kyffhäuser immer noch Kaiser Friedrich I. «Barbarossa» mit seinen Getreuen schlafen, um eines Tags zu erwachen und das Reich zu neuer Herrlichkeit zu führen. Die Heiligenlegende der sieben Schläfer von Ephesus wiederum erzählt von sieben Christen, die sich in einer Höhle vor der Verfolgung verstecken, dort einschlafen und 200 Jahre später wieder erwachen. Die Schöpfungsmythen der Azteken, der Navajo und der Hopi berichten gar, dass der Mensch aus Öffnungen im Dach der Unterwelt – also eigentlich aus einer Höhle – auf die Erde gestiegen sei. Die Kelten wiederum betrachteten Höhlen und Quellen als Orte der Gottesnähe und der Heilung.
Im Zuge der Christianisierung wurden viele vor- und frühchristliche Kultstätten mit Kirchen oder Kapellen versehen und als Wallfahrtsorte betrieben. Dies gilt auch für die St. Beatus-Höhlen. Eine Pfarrei zu Sancto Beato wurde 1230 das erste Mal urkundlich erwähnt. Die Pfarrei gelangte in den Besitz des Klosters Interlaken, das den Beatus-Kult nach Kräften förderte: Eine Pilgerherberge wurde errichtet, Wallfahrtsabzeichen und Ablasszettel wurden verkauft. Das 15. Jahrhundert erlebte einen regelrechten Boom der Beatusverehrung. Ganze Pilgerscharen besuchten die Grabstätte des Heiligen, um Heilung zu erflehen. Als 1439 die Pest ausbrach, verordnete die Stadt Bern gar einen allgemeinen Buss- und Bittgang an den Thunersee, der damals noch Wendelsee hiess. Der Reformationsbewegung war die Heiligenverehrung im 16. Jahrhundert jedoch ein Dorn im Auge. Mehrfach wurde die Höhle zugemauert, das Pilgern wurde unter Androhung von Strafen verboten. Der Erfolg war jedoch mässig: Noch bis Anfang des letzten Jahrhunderts pilgerten Wallfahrer aus der Innerschweiz zu den St. Beatus-Höhlen.
Düstere Kreaturen
Wo es dunkel ist, hausen jedoch oft auch unheimliche Gestalten – zumindest in der Fantasie des Menschen. Der griechische Held Odysseus traf in der Höhle der Zyklopen auf den einäugigen Riesen Polyphem. Die nordische Mythologie kennt die Schwarzalben, die «unten in der Erde» wohnen. Ob sie wohl mit den Feen der keltischen Sagenwelt verwandt sind? Diese sind nämlich ebenfalls oft in Grotten anzutreffen und haben sich offenbar bis in die Feengrotte oberhalb von Saint-Maurice im Wallis ausgebreitet. Weniger düster, dafür oft recht grummelig sind arbeitsame Zwerge, die als bärtige Bergarbeiter aller literarischen Fantasywelten ganze Städte in den Fels hauen. Sie haben ihren Ursprung in der nordischen Mythologie, wo ihnen eine Verwandtschaft zu den Schwarzalben nachgesagt wird und wo sie meist als Hüter riesiger Schätze auftreten. Der bekannteste und sicherlich furchterregendste mythologische Höhlenbewohner ist jedoch der Drache. Man erinnere sich nur an Smaug aus «Herr der Ringe». Drachen verkörpern das übermächtige, Fleisch gewordene Böse, das in fast jeder Sagenwelt sein Unwesen treibt. Ein solch schuppiges Ungeheuer soll einst auch in den Beatus-Höhlen gehaust haben. Der heilige Beatus vertrieb jedoch im 6. Jahrhundert dieses Sinnbild gottfeindlicher Mächte. Daraufhin liess er sich am Eingang der Drachenhöhle nieder und begann, der heidnischen Schweizer Bevölkerung das Christentum zu verkünden und die Kranken zu heilen.
Zwischen publikumsfreundlich und naturnah
Drachen und Heilige trifft man heute in den St. Beatus-Höhlen natürlich nicht mehr an, dafür umso mehr höhlenbegeisterte Tourist:innen. «Täglich verzeichnen wir zwischen 600 und 1400 Besucherinnen und Besucher, darunter viele Schulklassen», sagt Marc Schneider, stellvertretender Geschäftsführer der Beatushöhlen-Genossenschaft. Die Höhlen sind bereits seit 1904 öffentlich zugänglich – kaum 60 Jahre, nachdem der Dampfschiffkapitän Johannes Knechtenhofer 1848 mit einigen Matrosen in viereinhalb Stunden kriechend bis zur sogenannten Kapitänsgrotte, 250 Meter vom Eingang entfernt, vorgedrungen war. Heute können Besuchende fast viermal so tief in den Berg hinein, vorbei am wild rauschenden Bach, an Stalagmiten, Stalaktiten und anderen bizarren Felsformationen. Kriechen muss heute niemand mehr. «Betreibt man eine Schauhöhle, muss man sich natürlich dem Publikum etwas anpassen», sagt Schneider. Deshalb wurden einige Passagen in der Höhe erweitert, Sicherheitsgeländer und Treppenstufen eingebaut und Lampen montiert. Seit 2022 sorgt ein runderneuertes Restaurant für das leibliche Wohl der Besucher:innen. Schneider: «Wir legen aber Wert darauf, trotz dieser Massnahmen die Höhle so original wie möglich zu belassen.» Farbig-atmosphärische Beleuchtung werde es daher nicht geben. Lieber geht man anderweitig auf die Wünsche der Besuchenden ein: «Man darf zum Beispiel in der Höhle fotografieren, das war nicht immer so. Ausserdem kann man auch ohne Führung einen Höhlenrundgang unternehmen. Dank einer kostenlosen App erhält man trotzdem spannende und interaktive Informationen.» Gefährlich ist dies jetzt, wo der Drache vertrieben ist, ja nicht mehr – spannend aber allemal!
Die Höhlenforschung oder Speläologie ist eine relativ junge Disziplin. Der erste bekannte Höhlenplan der Schweiz stammt zwar von 1767, die systematische Erforschung von Höhlen begann jedoch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Als Vater der modernen Speläologie gilt der Pariser Rechtsanwalt Edouard Alfred Martel, der von 1888 bis 1914 jährlich eine Expedition in Europas Untergrund unternahm und seine Funde und Erkenntnisse akribisch veröffentlichte. In der Schweiz war der 1939 gegründete Club des Boueux (Club der Schlammigen) die erste Organisation rund um Höhlenforschung. Aus ihm entstand in den 1950er-Jahren die Schweizerische Gesellschaft für Höhlenforschung (SGH). Diese wiederum gründete 2000 das Schweizerische Institut für Speläologie und Karstforschung (SISKA). Dennoch gibt es in der Schweiz keine hauptberuflichen Speläologen; alle Informationen über die rund 9000 im Höhlenkataster verzeichneten einheimischen Höhlen stammen von engagierten Amateur:innen.