Food Waste-Vermeidung als Türöffner für wirksamen Klimaschutz
Ein grosser Hebel zur Vermeidung der in der Landwirtschaft anfallenden Lebensmittelverluste findet sich im Detailhandel. Während der Aktionsplan der Schweiz gegen Food Waste in diesem Bereich relativ vage bleibt, könnte die neue Klimastrategie des Bundes nun Gegensteuer geben.
«Bis zur Hälfte der Lebensmittel, die nicht gegessen werden, gehen bereits während oder nach der Ernte verloren. Zwei Drittel davon wären aber noch geniessbar», analysiert die Beratungsfirma McKinsey in ihrer Studie «Reducing food loss: What grocery retailers and manufacturers can do» von 2022. Daher werden in dieser Studie Lebensmittelhersteller und -händler aufgefordert, Themen wie Überproduktion und Handelsnormen anzugehen und miteinander zusammenzuarbeiten. Die meisten Beschaffungsverträge würden keinerlei Anreize zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten bieten, obschon hier ein Marktpotenzial von rund 80 Milliarden Dollar liege. Zudem könnten Unternehmen so auch ihre Scope-3-Emissionsbilanz, das heisst die Treibhausgasemissionen der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette, verbessern.
Fehlender Druck
Auch der 2022 vom Bundesrat verabschiedete Aktionsplan gegen Food Waste anerkennt, dass «Normen, Branchenstandards und Vertragsklauseln mit Landwirten und Verarbeitern, etwa bezüglich der Liefermengen und -fristen sowie der Haltbarkeitsdaten, die Entstehung von Abfällen oder Nebenprodukten beeinflussen. Und dass Prozesse sowie die Berücksichtigung von Angebot und Nachfrage bei der Planung optimiert werden können». Zur Art der erforderlichen Massnahmen in diesem Bereich macht der Aktionsplan jedoch leider keine Aussagen. Er überlässt dies im Rahmen einer branchenübergreifenden Vereinbarung der Eigenverantwortung der Unternehmen des Lebensmittelsektors. Der Druck, den die Vereinbarung ausübt, ist allerdings nicht sehr stark, da unklar bleibt, welche verschärften Massnahmen drohen, wenn die Lebensmittelverluste bis 2030 nicht gegenüber dem Stand von 2017 halbiert werden.
Scharnierstelle Detailhandel
Dass Innovationsdruck mittels gesetzlicher Vorgaben oder finanzieller Anreize erforderlich ist, um Massnahmen zu initiieren, die über die derzeitigen Selbstverpflichtungen der Detailhändler hinausgehen, zeigt etwa der Bericht von Greenpeace Schweiz zur Nachhaltigkeitsstrategie der Migros: Lebensmittel, die vor Ankunft in den Filialen bei den Produzent:innen oder im Schlachthof vernichtet werden, weil sie die Normen und Migros-Standards nicht erfüllen, werden laut der Umweltorganisation gar nicht erst erfasst. Auch Josianne Walpen von der Stiftung Konsumentenschutz betont daher: «Der Detailhandel ist eine wichtige Scharnierstelle in der Wertschöpfungskette, denn er bestimmt, was, in welcher Form und zu welchem Preis den Konsument:innen angeboten wird. Hier hat er weitreichende Möglichkeiten und damit eine grosse Verantwortung, die er besser wahrnehmen muss.» Über die Jahre immer perfektere Gemüse und Früchte anzubieten, habe nun negative Folgen. Konsument:innen würden das perfekte Aussehen als Regel erachten und wüssten nicht, welche Lebensmittelverluste damit verbunden seien.
Josianne Walpen
Josianne Walpen arbeitet bei der Stiftung für Konsumentenschutz und ist dabei tätig für die Bereiche Lebensmittel, Ernährung und Print.
Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, sieht in der Normenanpassung ein grosses Potenzial im Kampf gegen Food Waste. «Die letztjährigen Korrekturen der Schweizer Qualitätsbestimmungen für Gemüse waren nicht weitreichend genug. Doch in der zuständigen Kommission können sich die Produzentenverbände aufgrund der Marktmacht des Detailhandels nicht durchsetzen.» Hinzu kommt, dass dieser auch strengere eigene Normen einführen darf. Solche betriebsspezifischen Standards könnten zwar aus Sicht eines einzelnen Unternehmens profitabel sein, etwa indem sie Kund:innen in den Laden lockten, die dann aufgrund der Optik von Obst und Gemüse auch andere Produkte bei diesem statt bei der Konkurrenz kaufen würden, ergänzt der Food Waste-Experte Claudio Beretta von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. «Gesamtgesellschaftlich gesehen würde eine Lockerung der Normen aber nicht nur ökologisch, sondern auch marktwirtschaftlich Sinn machen, weil der Wert der heute normenfernen Produkte nicht mehr verschwendet wird.»
Mathias Binswanger
Matthias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen (www.mathias-binswanger.ch).
Mehr Verhandlungsmacht für die Landwirt:innen
Die im vergangenen September veröffentlichte «Klimastrategie Landwirtschaft und Ernährung 2050» der Bundesämter für Landwirtschaft (BLW), Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) sowie für Umwelt (BAFU) fordert eine Transformation des Angebots des Detailhandels. Insbesondere der Massnahmenbereich «Ressourcenschonende Konsummuster» könnte Synergien im Kampf gegen Food Waste erzeugen. Hierin heisst es: «Zielvereinbarungen mit dem Detailhandel sollten Elemente zur Förderung der Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum beinhalten.» Diese Vereinbarungen könnten etwa bei der Überproduktion ansetzen: Um dem Detailhandel feste Liefermengen garantieren zu können, müssten Landwirt:innen Überschüsse produzieren, ohne eine Abnahmegarantie für diese zu erhalten, argumentiert Christian Gerber, Geschäftsführer von Gerber Bio Greens in Fehraltorf. Zudem enthielten die Vertragsklauseln häufig die Auflage, dass die Produzent:innen Überschüsse und normenferne Produkte nicht unter dem Detailhandelspreis auf ihren Höfen verkaufen dürften, ergänzt die Konsumentenschützerin Josianne Walpen. Daher blieben sie als Gründüngung auf den Feldern liegen, landeten auf dem Kompost oder in der Biogasanlage, wenn der Detailhandel sie nicht abnehme. «Erforderlich wäre die Abnahme flexibler Mengen und einer natürlichen Formenvielfalt durch den Detailhandel», resümiert Biogemüsebauer Christian Gerber.
Claudio Beretta
Claudio Beretta ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Nachhaltigkeit und Food Waste-Vermeidung im Ernährungssystem an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil und Präsident von foodwaste.ch, dem Verein, der sich der Information und Aufklärung zum Thema Food Waste verschrieben hat.
Da hierzulande Tausende von Landwirt:innen im Wesentlichen auf zwei Grosshändler treffen, könnten diese die Marktbedingungen bestimmen, analysiert Mathias Binswanger die aktuelle Situation. Denn ausser vollständig auf Direktvermarktung zu setzen, verfügten Landwirt:innen über wenig Alternativen. Der Detailhandel hingegen könne einfach auf andere Produzent:innen oder teilweise auch Importprodukte ausweichen. «Auch die Massnahmen des Aktionsplans und der Klimastrategie können daher nicht losgelöst von dieser Marktmacht diskutiert werden. Wenn in den zur Branchenvereinbarung gebildeten Arbeitskreisen effektiv nach Lösungen gesucht werden soll, muss der Staat den Landwirt:innen innerhalb der Wertschöpfungskette mehr Verhandlungsmacht geben.» Es sollten rechtliche Rahmenbedingungen festlegt werden, welche die Geschäftspraktiken der Lebensmittelketten regulieren, etwa durch das Verbot, Nahrungsmittel unter den Produktionskosten einzukaufen, wie es in einigen EU-Staaten bereits eingeführt worden sei.
Christian Gerber
Christian Gerber ist Gärtnermeister und Inhaber von Gerber Gemüsebau und Gerber Bio Greens. Zusammen mit seinem Team baut er im Thurtal Gemüse nach «Suisse Garantie»-Richtlinien an und von Fehraltdorf bis Flaach Bio-Gemüse.
Marktdurchlässigkeit verbessern
Als weitere Stellschraube zur Vermeidung von Lebensmittelverlusten in der Landwirtschaft erweist sich die permanente Verfügbarkeit eines Vollsortiments im Detailhandel. «Sie führt zu einem Kategorienmanagement mit eigenen Beschaffungskanälen je Artikel. Durch diese künstliche Marktsegmentierung fehlt die Durchlässigkeit zur Industrie und damit zu Maschinenkapazitäten, um normenferne Produkte und Überschüsse verarbeiten oder einfrieren zu können», betont Christian Gerber. Sinnvoll wären Selbstverpflichtungen des Detailhandels zur Verkleinerung der Sortimentsbreite sowie finanzielle Anreize, um Verarbeitungskapazitäten in der Industrie zu schaffen. Produkte mit hohem Food Waste-Anteil sollte der Detailhandel nicht mehr anbieten oder dafür sorgen, dass die anfallenden Lebensmittelreste verarbeitet werden, ergänzt Claudio Beretta. «Zudem könnten Überschüsse und normenferne Produkte im Laden durch produktionsgetriebene Aktionsplanung vermarktet werden oder durch Abokörbe, die zur Hälfte normenfernes, saisonales Gemüse enthalten, während die restlichen Produkte frei wählbar sind.» Auch schwankende Produktionsmengen sollten kein Verkaufshindernis sein. Wenn Verarbeitende wie etwa Biotta durch die Vorgaben des Detailhandels dazu gezwungen seien, auch normengerechtes und lagerbares Gemüse zu nutzen, damit ihre Säfte permanent verfügbar seien, widerspräche dies dem Sinn der Saftproduktion, nämlich normenfremdes oder nicht lagerbares Gemüse in lagerbare Produkte umzuwandeln.
Ernährungsumgebung anders gestalten
Die Ernährungsumgebung in der Schweiz sollte, so die Klimastrategie, eine nachhaltige, gesunde und ausgewogene Ernährung zu einer einfachen Wahl machen, denn das Angebot habe einen grossen Einfluss auf die Kaufentscheidung, nicht nur umgekehrt. Dies bestätigt auch Josianne Walpen: Die Konsument:innen müssten über die gesamte Wertschöpfungskette die Chance haben, durch ihr Kaufverhalten stärker zur Food Waste-Vermeidung beizutragen. «Wenn die Ernährungsumgebung jetzt nicht anders gestaltet wird, provoziert sie einen Ernährungsstil, den wir uns nach dem jetzigen Stand der Klimakrise nicht mehr leisten können.» Claudio Beretta schlägt daher vor, die saisonalen, regionalen, normenfernen und nachhaltigen Produkte sowie Überschüsse und Ware an der Grenze zum Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum weiter vorne im Detailhandel zu platzieren. Denn gemäss neuen Empfehlungen des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit können Produkte mit einem Mindesthaltbarkeitsdatum eine gewisse Zeitspanne unbedenklich über dieses hinaus verzehrt werden. Produkte mit einem Verbrauchsdatum lassen sich, rechtzeitig tiefgefroren, zudem bis zu neunzig Tage nach diesem verkaufen oder spenden. Hierzu hat foodwaste.ch eine Toolbox für den Detailhandel entwickelt. «Gut platziert lassen sich somit praktisch alle datierten Produkte retten, die heute im Detailhandel verschwendet werden», konstatiert Beretta.
Margen anpassen
Mathias Binswanger befürwortet diese Massnahmen, ergänzt allerdings, dass die neue Produktplatzierung nur bedingt erfolgreich ist, solange die Margen des Detailhandels auf Bio- und anderen nachhaltigen Labelprodukten nicht verkleinert würden. «Die höheren Verkaufspreise für diese sind nur zu einem geringen Teil auf die grösseren Herstellungskosten zurückzuführen, denn die Landwirt:innen erhalten derzeit nicht immer kostendeckende Preise für ihre Erzeugnisse. Der Detailhandel argumentiert mit höheren Kosten für getrennte Verpackung, aber die Preisdifferenz gilt auch für unverpacktes und unverarbeitetes Frischgemüse und -obst.» Selbst wenn man bei Fleisch die Verarbeitungsmarge im Handel berücksichtige, sei ein Grossteil der Preisdifferenz unbegründet. «Zudem wäre die Verlagerung der Margen von nachhaltigen auf umweltbelastende Produkte ein Schritt in Richtung Verursacherprinzip, denn heute trägt die Allgemeinheit die Folgekosten der verursachten Umweltbelastungen», ergänzt Beretta.
Mehr Transparenz schaffen
Des Weiteren setzt die Klimastrategie auf mehr Transparenz bezüglich der Auswirkungen von Produktion und Konsum von Lebensmitteln, dies etwa in Form einer freiwilligen Klimakennzeichnung. Bisher haben einige Grossverteiler – ohne klare Vorgaben des Bundes – in Eigenverantwortung Labels entwickelt. «Das führte zu einem unkoordinierten Set an unterschiedlichen Einzelmassnahmen mit zahlreichen Zielkonflikten. Denn versucht man lediglich einzelne Glieder der Wertschöpfungskette bezüglich ihrer Nachhaltigkeit zu optimieren, kann es sein, dass die negativen Auswirkungen nur verschoben werden», so die Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor SALS. Diese hat nun in Kooperation mit dem Institut für Agrarökologie einen Nachhaltigkeitsindex entwickelt. Er bezieht alle relevanten Akteure entlang der Wertschöpfungskette und alle Dimensionen der Nachhaltigkeit mit ein. Ausserdem basiert der Index auf den Leitlinien für Nachhaltigkeitsbewertung von Agrar- und Lebensmittelsystemen SAFA der UN-Organisation für Ernährung FAO. Daher könnte er auch kompatibel mit dem Nachhaltigkeitslabel sein, das die Europäische Kommission im Rahmen der «Farm to Fork»-Strategie bis Anfang 2024 auf EU-Ebene einführen will.
Mathias Binswanger begrüsst, dass der Nachhaltigkeitsindex die Landwirtschaft nicht isoliert betrachtet, sondern konsequent die gesamte Wertschöpfungskette anschaue. Einen aggregierten Index hält er jedoch für wenig informativ, da sich hierdurch die mit der Erhebung der verschiedenen Daten verbundenen Unsicherheiten kumulieren würden. «Zudem sollten Indexzahlen möglichst nah an einer Messgrösse bleiben und nicht erst auf eine Fläche umgerechnet werden, wie dies etwa bei der Angabe der Treibhausgasemissionen in Form des CO2-Fussabdrucks der Fall ist. Generell aber gilt: Die derzeitige Flut an Labels muss stark reduziert werden.»
Fazit: Solange ein Grossteil der Lebensmittel weggeworfen wird, macht dies die gesamte Nachhaltigkeitspolitik unglaubwürdig. Dabei würde die Vermeidung von Food Waste die Umweltbelastung durch das Ernährungssystem um ein Viertel reduzieren und Kosteneinsparungen ohne Verzicht ermöglichen. Angesichts der Klimakrise dürfen wir nicht auf die Selbstverpflichtungen des Detailhandels warten oder wie bisher den Konsument:innen allein den schwarzen Peter zuschieben. «Vielmehr sollten wir freiwillige Massnahmen der Wirtschaft mit rechtlich verbindlichen Vorgaben und finanziellen Anreizen kombinieren, damit Detailhändler und die übrigen Akteure ohne individuellen Konkurrenznachteil ihre Chance nutzen können, Lebensmittelverluste auf ein Minimum zu verringern», schlägt Claudio Beretta vor. Gut koordiniert könnten Detailhändler zudem mit Information in den Filialen und in Zusammenarbeit mit Sensibilisierungskampagnen das Bewusstsein der Bevölkerung für eine nachhaltige Produktewahl und weniger Verschwendung schärfen. Hoffentlich kann die Klimastrategie hier Wirkung entfalten, denn dermassen viel wie beim Thema Food Waste kann die Wirtschaft bei anderen Klimaschutzmassnahmen kaum profitieren. So könnte die Vermeidung von Food Waste ein Türöffner für wirksamen Klimaschutz sein.