Berg frei – Die Anfänge der Naturfreunde
Spricht man heute von Natur, ist der Gedanke an den Naturschutz nicht weit. Auch die Naturfreunde, deren Wurzeln in der Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts liegen, bezogen sich bei ihrer Gründung auf einen klar definierten Naturbegriff, der sich jedoch vom heute gebräuchlichen deutlich unterscheidet. Denn das Verständnis von Natur hatte sich zu jener Zeit gerade stark gewandelt.
Das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur verändert sich stetig. Lange Zeit waren Reisen in die Natur zum Vergnügen und zur Erholung der Oberschicht vorbehalten. Im Zeitalter der Romantik (1795–1845) änderte sich dies jedoch langsam und immer mehr Leute gingen auf Reisen. Mit dem Beginn der Industrialisierung entwickelte sich eine Gegenbewegung, welche den technischen Fortschritt ablehnte und die Rückbesinnung auf die Natur forderte.
Mit der zunehmenden Verstädterung im 19. Jahrhundert verstärkte sich die Wahrnehmung dieser Gegensätzlichkeit vom unfreien Dasein in der Stadt zur natürlichen Freiheit auf dem Land. Aus diesem Naturverständnis wuchs auch das Bedürfnis nach Umwelt- und Heimatschutz.
Mitte des 19. Jahrhunderts konnten sich schliesslich auch reiche Bürgerliche die jährliche Fahrt aufs Land zur Kur leisten. Dies wiederum brachte die adlige Oberschicht dazu, sich neue Tourismusorte zu erschliessen und sich unter anderem dem Hochgebirge als Erlebnisraum zuzuwenden. Es folgte eine Gründungswelle von Alpenvereinen, so auch des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) 1863. Das Hauptziel des SAC war die Förderung des Alpinismus, also des Bergsteigens und der Erforschung des Alpenraums.
Die Natur wurde zum Zufluchtsort, einem Ort der Selbstfindung und Spiritualität.
Die Naturfreunde entstanden aus dem Bedürfnis heraus, das Leben der Arbeiterschaft zu verbessern. 1895 fanden sich in Wien einige gleichgesinnte Sozialisten zusammen: Metallarbeiter Alois Rohrauer, ein Lehrer namens Georg Schmiedl, der Schriftsetzer Leopold Happisch sowie Karl Renner. Renner war zu jener Zeit noch Student, machte sich später aber als Politiker einen Namen. Die Gruppe war der festen Überzeugung, dass eine soziale Besserstellung der Arbeiterschaft nur dann gelingen könne, wenn diese besser aufgeklärt, gebildet und physisch gestärkt werde. Dieses Ziel wollte sie erreichen, indem sie die Arbeiterschaft weg von Alkohol- und Tabakkonsum in der Stadt und hin zur Natur führte – frei nach dem Motto: «Das Land macht gesund.»
Deshalb platzierte Schmiedl im Frühjahr 1895 in der Wiener Arbeiterzeitung das Inserat: «Naturfreunde werden zur Gründung einer touristischen Gruppe eingeladen.» 85 Personen folgten diesem Aufruf und der Grundstein für den Verein Naturfreunde war gelegt. Ziel der Gruppe war es, einer breiten Bevölkerungsschicht kostengünstige Möglichkeiten zur Freizeit- und Reisegestaltung in der Natur zu ermöglichen, denn für viele Arbeiter war der Aufstieg in die freie Bergwelt nach wie vor unerschwinglich. Nicht nur die Preise für Unterkünfte waren problematisch, auch mangelnde Ausrüstung sowie fehlende Wegkenntnisse waren ein Hindernis. Dazu kam, dass viele alpine Wege schlicht nicht öffentlich zugänglich waren, da sie durch den Besitz der Oberschicht führten. Stimmen wurden laut, die einen freien Zutritt zur Natur für alle forderten – eine revolutionäre Forderung für damalige Verhältnisse!
Der freie Zugang zur Natur als Menschenrecht wurde zu einer zentralen Motivation der Naturfreundebewegung. Von daher stammt auch der Naturfreundegruss «Berg frei!» – ein internationales Erkennungszeichen unter Gleichgesinnten, aber auch ein Schlachtruf im Kampf um das Recht, Berglandschaften betreten zu dürfen, ohne vorher die Erlaubnis des Grundbesitzers einholen zu müssen.
Naturfreunde in der Schweiz
Nur wenige Jahre nach der Gründung in Österreich erreichte die Naturfreundebewegung auch die Schweiz. 1905 wurde die erste Ortsgruppe in Zürich gegründet. Ferdinand Bednarz war einer der eifrigsten Gründer, was ihm den Zunamen «Apostel der Naturfreunde» einbrachte. Bednarz stammte ursprünglich aus Ungarn und kam 1903 nach Zürich. In Wien traf der gelernte Schriftsetzer auf Leopold Happisch, der ihn für die Idee der Naturfreunde begeisterte. In den folgenden Jahren initiierte Bednarz die Ortsgruppen in Luzern und Bern (beide 1905), Biel, St. Gallen, Winterthur und Basel (alle 1906), Ragaz (1907), Schaffhausen und Arbon (1908) sowie Pfäffikon, Uster und Rorschach (zwischen 1909 und 1913). Unabhängig davon entstanden die Ortsgruppen in Davos (1905) und Chur (1906).
Die Naturfreunde waren eine internationale Bewegung. Das brachte aber auch Probleme mit sich, denn die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung und des sozialistischen Gedankenguts war damals in der Schweiz weit weniger fortgeschritten als in den Nachbarländern. So fiel es den Schweizern anfangs schwer, sich offen in Arbeiterbewegungen zu organisieren – besonders in konservativen, ländlichen Gebieten. Entsprechend harzig sah auch die Entwicklung bei den Naturfreunden aus: Es fanden sich zwar viele Vereinsmitglieder, doch es brauchte 1905 noch sehr viel Mut, ein offizielles Amt in einer solchen Bewegung zu übernehmen. So kamen in den Anfangsjahren nur wenige Funktionäre aus der Schweiz.
Der Naturfreundegruss «Berg frei!» – ein internationales Erkennungs-zeichen unter Gleichgesinnten, aber auch ein Schlachtruf
1912 bauten die Ortsgruppen am Säntis die erste Naturfreunde-Hütte. Das älteste heute noch bestehende Naturfreundehaus ist die 1913 erbaute «Gorneren» im Berner Kiental. Mit den Naturfreundehäusern wollte der Verein günstige Zufluchtsorte in der Natur schaffen. Die Wanderunterkünfte boten den Mitgliedern aber auch Freiraum für ungestörte politische Betätigung. Die Naturfreunde waren Idealisten und träumten von einer neuen Welt, in der es keinen Unterschied mehr zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse geben würde. Sie zelebrierten die Freiheit der Natur sowie die Solidarität und Freundschaft unter Gleichgesinnten.
Quellen: Schumacher, Beatrice (2005): «engagiert unterwegs» – 100 Jahre Naturfreunde Schweiz; Raffelsiefer, Marion (1999): Naturwahrnehmung, Naturbewertung und Naturverständnis im deutschen Naturschutz; Teuschel, Walter und Müller, Günter (2017): «Berg frei! – Warum der NaturFreunde-Gruß zeitgemäßer denn je ist».