Ferien für alle? Aufstieg und Niedergang des Volkstourismus
Die Naturfreunde boten nach dem 2. Weltkrieg öffentlich zugängig günstige Reisen für Arbeiterfamilien und Gewerkschaften an, die gleichzeitig auch die soziale und kulturelle Bildung fördern sollten.
In der Nachkriegszeit rückte der «Volkstourismus» immer mehr in den Fokus der Naturfreunde. Diese Reisen sollten eine breitere Öffentlichkeit ansprechen und auch für Nichtmitglieder zugänglich sein. Vorbild dafür war das legendäre Skilager in Zermatt mit über 460 Teilnehmer:innen, das 1941 von Theo Pinkus und Mathis Margadant organisiert worden war. Da solche Teilnehmerzahlen zu viel für die Naturfreundehäuser waren, wich man auf externe Hotels und Pensionen aus. Allerdings waren sich die Naturfreunde nicht einig, was sie davon halten sollten. Kritiker meinten, dass dieser «Massentourismus» gänzlich gegen die Werte des Vereins verstosse. Die Befürworter:innen argumentierten jedoch, dass die Naturfreunde schon seit jeher Reise- und Freizeitangebote für die Arbeiterschaft organisiert hätten und dass sie mit den neuen Projekten lediglich dem aktuellen Zeitgeist folgen und die Schönheit der Natur einem breiteren Publikum zugänglich machen wollten. Sie sahen die Unruhen in der Nachkriegszeit als politische Gelegenheit, um die Gesellschaft neu zu ordnen und den Arbeiter:innen mehr Rechte und Vorteile zu verschaffen.
Die Tourist:innen aus der Arbeiterschicht hätten in ihren Ferien ebenfalls Anspruch auf Komfort verdient und die bestehenden Naturfreundehäuser seien nun mal nicht dafür ausgelegt:
Wenn man sich pflegen, sich erholen will, möchte man sich nachts ausziehen, am Morgen mindestens hie und da in die Wanne legen und dann an den gedeckten Tisch setzen. […] ‹Spiesser›, werden einige sagen, und dabei vergessen, dass sie sich in den Ferien von ihrer Frau bedienen lassen.
Willi Engeli, Berg frei, 1944
Aufschwung des Volkstourismus
Das 1943 gegründete Ressort «Volkstourismus» unter Willi Engeli genoss zu Beginn wenig Rückhalt. Dies änderte sich jedoch, als sich der Fokus des Schweizer Fremdenverkehrs zunehmend weg von ausländischen Luxustouristen hin zur breiten Öffentlichkeit bewegte. Plötzlich war die Branche bereit, sich zu verändern und neue Wege zu gehen. Diese Entwicklung ging auch an den Naturfreunden nicht spurlos vorüber: 1945 wurde Theo Pinkus neuer Ressortleiter und fand die nötige Unterstützung im Landesverband. Damit kam der Stein ins Rollen. Die Ideen des neuen Ressorts fanden grossen Anklang und wurden rasch umgesetzt. 1946 organisierten die Ressorts «Volkstourismus» und «Kurswesen» gemeinsam eine Ausbildung für Reise- und Tourenleitende. Die Teilnehmenden lernten dort unter anderem praktische Fähigkeiten wie die Organisation von Kollektivreisen und Verpflegung für grosse Gruppen. Sie lernten aber auch, wie man den Tourist:innen die Werte der Naturfreunde näherbringen könnte und wie man den Skilehrern und Tourenleitern den «leicht faschistischen Einschlag», den sie im Militärdienst gelernt hatten, wieder austreiben könne.
Neben den Osterlagern waren auch die Familienlager im Sommer und Winter sowie die Lager für Mutter und Kind sehr beliebt. Diese fanden immer häufiger nicht in Naturfreundehäusern statt, sondern in Hotels, mit denen man besondere Mietkonditionen ausgehandelt hatte. Oft boten diese Lager auch Kinderbetreuung an, damit sich die Eltern erholen konnten.
Nachdem die Grenzen nach dem Krieg wieder offen waren, wurden auch Reisen ins Ausland organisiert, vor allem von Unternehmen: 1946 organisierte die Zürcher Strassenbauer-Sektion eine Betriebs-Austauschreise nach Paris, 1948 trafen sich die Oerliker Metallarbeiter mit den Angestellten der Renault-Werke. Die Auslandsreisen waren jedoch nicht auf Betriebsangehörige beschränkt: 1947 organisierte das Ressort «Volkstourismus» mehrere Lager an die Küste Frankreichs. Die sogenannten Meerlager erfreuten sich grosser Beliebtheit und so führten Naturfreundereisen bald auch nach Italien und Holland (ab 1947).
Politik als unüberwindbare Hürde
Das Ressort war sehr erfolgreich und erzielte Gewinne, allerdings war das Sekretariat stark belastet und mit den vielen zusätzlichen Aufgaben etwas überfordert. Nach dem Osterlager 1947 mit über 2000 Teilnehmenden kam es zu Unstimmigkeiten zwischen den beteiligten Ressorts und die vereinsinternen Gegner des Volkstourismus bekamen wieder Aufwind. Des Weiteren fehlte es dem Ressort auch an externer Unterstützung: Weder die Sozialdemokratische Partei noch der Schweizerische Gewerkschaftsbund waren an einer Zusammenarbeit interessiert. Auch die Versuche, mit der Schweizer Reisekasse (Reka) und anderen grossen Verbänden des Schweizer Tourismus anzubandeln, verliefen aussichtslos, da die Naturfreunde als «zu links» wahrgenommen wurden.
In der folgenden Hysterie des Kalten Kriegs warf die bürgerliche Presse den sozialdemokratisch orientierten Naturfreunden vor, von Kommunisten unterwandert zu sein. Besonders die volkstouristischen Aktivitäten wurden kritisiert: Einerseits wegen der politischen Tätigkeit von Ressortleiter Pinkus, andererseits weil einige Naturfreunde 1948 in die mittlerweile sowjetische Tschechoslowakei gereist waren.
Aufgrund der vorherrschenden antikommunistischen Stimmung im Land forderten einige Ortsgruppen eine strikte Trennung von Parteipolitik und Naturfreunde-Bewegung. Der Zentralverband reagierte und forderte seine Mitglieder auf, ihre politischen Funktionen künftig klar von ihrer Funktion bei den Naturfreunden zu trennen. PdA-Mitglieder durften keine Führungspositionen mehr übernehmen. In der Folge traten Theo Pinkus und Mathis Margadant aus der Landesleitung aus. Damit nahm das Engagement für den Volkstourismus ein abruptes Ende, denn das Ressort wurde nicht neu besetzt. Dies war der erste Schritt zur Entpolitisierung des Vereins und einer allmählichen Loslösung von Arbeiterbewegung und Gewerkschaften.