Val Müstair – Schritt für Schritt in eine Zukunft mit Zukunft
Die Konsequenz, mit der die Val Müstair eine nachhaltige Entwicklung verfolgt, könnte das Tal zu einer Vorzeigeregion für unser Land machen. Ein Sonntagsspaziergang sind diese Bemühungen jedoch nicht, wie ein Augenschein an diesem geografischen Tor zur Schweiz zeigt.
Zu Beginn dieser Reise, auf der wir herausfinden möchten, wie ernst es der Val Müstair mit dem Thema Nachhaltigkeit ist, die man nach eigenen Angaben anstrebt, stehen wir in der Anfang-Juli-Mittagshitze mitten in Sta. Maria in der Val Müstair, talauf- und abwärts knattern Motorräder in Rudeln an uns vorbei, zwängen sich Autos, Wohn- und Lastwagen durch die enge Hauptgasse mit ihren schönen alten Häusern, sodass wir nur rasch hier wegwollen. Also nichts wie den Hang hinauf den Wiesen entlang und an Bauernhöfen vorbei in Richtung Wald. Diese Ruhe! Und dieser Duft! Und diese vielen Insekten!
Die Landwirtschaft in der Val Müstair besteht hauptsächlich aus Rinderzucht und Milchwirtschaft. Vermehrt wird auch Getreide angebaut – wieder Getreide angebaut, genau genommen, denn der Getreideanbau hat in der Val Müstair eine lange Tradition. Zudem gibt es noch eine stattliche Zahl an Schafen und Ziegen, über die noch Erfreuliches zu berichten sein wird. Mehr als 80 Prozent der Landwirtinnen und Landwirte produziert hier ausserdem nach biologischen Richtlinien. Dahinter stecken vermutlich viele verschiedene Gründe und Geschichten, ein Grund für diese Tatsache ist jedoch ziemlich handfest, nämlich in Form der Chascharia, der Käserei. Die Milchbauern, die ihre Milch direkt im Tal verarbeiten möchten, haben sich in der Chascharia Val Müstair zusammengeschlossen. Diese ist jedoch zu klein, um eine Anlage für Bio-Milch und gleichzeitig eine für konventionell produzierte Milch zu führen. Das hat 1996 zum Richtungsentscheid geführt, nur noch Bio-Milch zu verarbeiten. Unterdessen vermarkten die zusammengeschlossenen Landwirte ihre Bio-Produkte erfolgreich unter dem Label Agricultura Val Müstair, das gemeinsam mit der Biosfera entwickelt wurde. Der Naturpark Biosfera Val Müstair* ist einer der stärksten Treiber einer nachhaltigen Entwicklung des Tals. Seine schwierigen ersten Jahre, die Biosfera Val Müstair gibt es seit 2010, haben unter anderem dazu geführt, dass sich das Tal einen Masterplan mit Marschroute Nachhaltigkeit gegeben hat – über diesen Masterplan Val Müstair 2025 später mehr.
Nationalpark: Unberührter Lebensraum für Tiere und Pflanzen.
Regionale Naturpärke: Teilweise besiedelt, hohe Qualität von Natur und Landschaft, nachhaltige Entwicklung der regionalen Wirtschaft.
Naturerlebnispark: Gebiete nahe dichter Siedlungen, Kernzone bietet Tieren und Pflanzen unberührte Lebensräume.
Die Pärke müssen zuerst die vom Bund definierten Bedingungen erfüllen und erhalten dann jeweils für zehn Jahre das Parklabel und Finanzhilfen.
Ein Biosphärenreservat ist eine von der UNESCO initiierte Modellregion, in der nachhaltige Entwicklung in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht exemplarisch verwirklicht werden soll.
Der regionale Naturpark Biosfera Val Müstair bildet zusammen mit dem Nationalpark und Teilen der Gemeinde Scuol das erste hochalpine UNESCO-Biospährenreservat der Schweiz.
Ist es die biologische Landwirtschaft, die bewirkt, dass die Wiesen in der Val Müstair von einer Blütenpracht sind, wie man sie nicht mehr oft sieht, und auf jede Blüte gefühlt zwanzig Insekten kommen? Sie schwirren und summen uns lustig um die Köpfe und brummen (sind es Maikäfer? Oder Junikäfer?) uns beim Gehen vor sich her. Wenn es tatsächlich so wäre, dass eine fast flächendeckende biologische Landwirtschaft die in den vergangenen Jahren vielerorts verschwundene Biodiversität wieder zum Leben erwecken kann, dann wäre das ein starkes Argument für diese Art der Agrikultur.
Leider ist der Wermutstropfen hier, wo wir uns über Blumen, Käfer und Schmetterlinge freuen, nicht weit. Genauer weht der Wermutstropfen je nach Wind aus dem nahen Südtirol herüber, wo riesige Apfelplantagen exzessiv mit Pestiziden besprüht werden.
Diese Pestizide sind auch in der Val Müstair messbar – zum Glück jedoch (noch?) nicht in einer gefährlichen Konzentration. Denn wenn diese in den biologisch produzierten Produkten zu hoch ist, dürfen sie unter Umständen nicht mehr unter dem Bio-Label verkauft werden. Ein Schicksal, dass einige Bio-Bauern im Südtirol schon ereilt hat.
Wir übernachten in einem kleinen B&B (leider gibt es kein Naturfreundehaus mehr in der Val Müstair) in Sta. Maria, das von einer überaus herzlichen Gastgeberin geführt wird. Vor dem Fenster rauscht die Muranzina vorbei, der Verkehr hingegen hat sich verzogen.
Hotels, Pensionen und B&Bs in der Val Müstair können sich mit dem Biosfera-Partnerlabel auszeichnen lassen, wenn sie dafür bestimmte Bedingungen erfüllen wie etwa die Berücksichtigung von regionalen Produkten, faire Arbeitsbedingungen – wenn möglich für Menschen aus der Region –, Umweltstandards in den Betrieben und Promotion der Biosfera. Die jährliche Überprüfung dieser Bedingungen kostet etwas Geld. Das Label ist jedoch ein starkes Argument für viele Gäste, die die Val Müstair gerade wegen der Bemühung um einen ökologischen, sanften Tourismus besuchen. Ob es auch diese Gäste sind, die für eine Zunahme der Übernachtungen in den vergangenen Jahren gesorgt haben, ist nicht klar. Dass es jedoch diese Steigerung gab, bestätigt uns Madeleine Papst von Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG.
Biosfera Val Müstair
Zahlreiche Angebote der Biosfera richten sich explizit an Familien mit Kindern. So kann auch in den Ferien der Wissensdurst des Nachwuchses befriedigt werden und alle kommen dabei in den Genuss einer Portion Umweltbildung.
A la riva dal Rom: Die 15 Kilometer lange, leichte Wanderung (Saison ist von April bis November) führt von der Quelle des Rom in Süsom-Tschierv bis zur Grenze nach Italien in Müstair. Der Weg führt an Flachmooren vorbei durch Auenlandschaften, revitalisierte Abschnitte des Rom und solche, die noch auf die Revitalisierung warten. Zusammen mit der Informationsbroschüre «A la riva dal Rom – ein Fluss schreibt Geschichte», kostenlos erhältlich im Center da Biosfera, wird die Wanderung zum Themenweg.
Die Broschüre informiert über die Geschichte, Sagen, Flora und Fauna rund um den Rom. Noch mehr entdecken können Kleine und Grosse mit dem Entdecker-Modul der Biosfera-App oder der App «Flower Walk». Entlang des Wegs gibt es zwei Spielplätze, Feuerstellen und diverse Einkehrmöglichkeiten. Teilweise ist der Weg auch mit Kinderwagen begehbar.
Chatscha Jaura: Eine Schnitzeljagd auf der Suche nach Nachhaltigkeit und Energie in der Val Müstair. Start ist in Müstair beim Kloster St. Johann, der Schlusspunkt beim Polizeiposten in Sta. Maria, Dauer ist ungefähr drei Stunden, je nach Geschwindigkeit. Unterwegs löst man zusammen Aufgaben, entschlüsselt knifflige Hinweise und geheime Botschaften. Die Schnitzeljagd kann auf eigene Faust ganzjährig unternommen werden. Vor Beginn muss ein Dokument heruntergeladen werden, alle anderen Informationen finden sich auf der Strecke. (Download: www.val-muestair.ch). Am Weg hat es Spielplätze, Feuerstellen und Picknickplätze.
Süls stizis da l’uors (Bärenweg): Der Lehrpfad Süls stizis da l’uors informiert auf spielerische Weise über die Biologie des Bären. Was Bären beispielsweise in Ameisenhaufen suchen und wie sie es schaffen, täglich ein halbes Kilo Gewicht zuzunehmen. Die Route ist neun Kilometer lang und führt auf dem Höhenweg Senda Val Müstair vom Ofenpass nach Lü. Unterwegs gibt es diverse Verpflegungsmöglichkeiten und einen Spielplatz. Süls stizis da l’uors ist nur einer von neun Ausflügen in der Bärenregion Val Müstair/Schweizerischer Nationalpark. Die Broschüre mit allen neun Wanderungen kann bei WWF Schweiz bezogen werden: www.wwf.ch.
Weitere Informationen und Angebote für Familien und Schulklassen erhältlich im Center da Biosfera, 7532 Tschierv, Telefon 081 850 09 09, www.biosfera.ch.
Doch was hat es jetzt eigentlich mit diesem «Masterplan Val Müstair 2025» auf sich? Der 240 Seiten starke Plan war 2017 von der Gemeinde Val Müstair* in Auftrag gegeben worden.
*Die heutige Gemeinde Val Müstair ist 2009 aus der Fusion sämtlicher Gemeinden im Tal (Fuldera, Lü, Sta. Maria, Tschierv, Valchava und Müstair) entstanden.
Hintergrund waren unter anderem der serbelnde Tourismus, abnehmende Bevölkerungszahlen und vor allem der junge Naturpark Biosfera Val Müstair, der nicht so richtig Fahrt aufnehmen wollte. Bund und Kanton, als Geldgeber des Parks, haben damals von der Gemeinde, der der Park unterstellt war, eine klare Strategie für die Biosfera verlangt. Weil der Naturpark aber ein Entwicklungsinstrument nicht nur für die Natur, sondern ebenso für Wirtschaft und Gesellschaft darstellen soll, hat man im Masterplan gleich alle Bereiche berücksichtigt, die für das Tal wichtig sind. Das sind namentlich die Natur (Biosfera und Nationalpark), Landwirtschaft, Tourismus, Kultur, Bildung, Verwaltung, Wirtschaft, Kloster St. Johann, Energie und Gesundheitswesen.
Für jeden einzelnen Bereich wurde eine Bestandsaufnahme gemacht und eine gemeinsame Zukunftsperspektive entwickelt, die bis 2025 konkret auf den Weg gebracht werden soll – stets unter der Prämisse einer nachhaltigen Entwicklung. Nachhaltigkeit versteht man in der Val Müstair gemäss der Definition im sogenannten Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der UNO von 1987. Kurz zusammengefasst lautet diese Definition folgendermassen: «Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.» Seinen Namen hat der Brundtland-Bericht von der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die damals den Vorsitz dieser Kommission inne hatte.
Lai da Rims
Wer hoch hinaus möchte und türkisblaue Bergseen mag, kommt am Lai da Rims (Lai heisst See) auf seine Kosten. Die fast 15 Kilometer lange Wanderung ab Sta. Maria ist etwas anspruchsvoller mit je fast 1000 Metern Auf- und Abstieg. Ab Sta. Maria gehts taleinwärts Richtung Val Vau und Tschuccai. Bei Las Clastras folgt man der Alpstrasse Richtung Val Mora bis zum Döss Radond (Döss Radond heisst Rundhöcker und entstand durch Gletscherschliff. Das Gebiet bildet eine kontinentale Wasserscheide) auf 2236 Metern über Meer. Nun folgt der Aufstieg auf den Piz Praveder bis auf 2763 Meter über Meer. Der Lai da Rims auf 2395 Meter über Meer ist nun in Sichtweite, ebenso wie der Piz Umbrail, von dem man ebenfalls zum Lai da Rims gelangen kann.
Der Abstieg ins Tal in Richtung Val Madonna geht im Zickzack steil bergab nach Tschuccai und Spi da Vau. Dort zweigt der Wanderweg nach Valchava ab, der Abstieg ist nun schön gemächlich. Zu gewissen Zeiten in der Saison kann mit dem Bergtaxi oder Postauto etwas abgekürzt werden, Auskunft darüber erteilt Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair, Telefon 081 861 88 40, www.val-muestair.engadin.com, info@val-muestair.ch.
Und wie geht es nun mit der Umsetzung des Masterplans konkret voran? Diese Frage haben wir Gabriella Binkert Becchetti gestellt, der Gemeindepräsidentin von Val Müstair. «Wir haben die Chascharia neu gebaut, weil die hygienischen Verhältnisse am alten Standort nicht mehr genügten. Neben der Chascharia gibt es heute auch die Bacharia, den Schlachthof. Somit können Milch und Fleisch vor Ort verarbeitet werden und es gibt keine langen Transportwege mehr. Der Masterplan hat auch angeregt, die regional produzierten Bioprodukte unter einem gemeinsamen Label zu vertreiben, deshalb gibt es heute das Lokaler-Genuss-Label Agricultura Val Müstair. Die Produkte werden in den Dorfläden verkauft und an Restaurants und Hotels geliefert. Als wegen Corona die Grenzen geschlossen waren, haben nicht nur die Touristen, sondern auch viele Einheimische realisiert, was für tolle Produkte wir hier haben. Viele kaufen ja sonst im Südtirol ein, weil das günstiger ist.»
Und was für Projekte hat der Masterplan rund um das Thema des nachhaltigen Tourismus angestossen? «Wo es ganz eng war, haben wir beispielsweise die Bike- und Wanderwege entflochten, damit die einander nicht mehr so in die Quere kommen. Die Biker werden ja immer mehr. Und wir haben die Tour de Ski, die alle zwei Jahre in der Val Müstair Halt macht. Auch die Zusammenarbeit mit der Biosfera wurde vertieft. Zu viele Projekte wollen wir aber gar nicht, denn wir streben ja eben keinen Massentourismus an, sondern wollen Gäste, die die Ruhe suchen, die Natur mögen und die etwas mit sich selbst anfangen können und nicht alles immer serviert haben müssen. Und manche Projekte, die der Masterplan vorschlägt, können wir nicht umsetzen, weil schlicht das Geld dafür fehlt.»
Die zweite Nacht verbringen wir in Müstair in einem der ältesten Hotels bei einem der ältesten Gastgebern des Tals gegenüber dem Kloster. Im historischen Haus ist im besten Sinn des Wortes die Zeit stehen geblieben. Hier wird nur restauriert, was nötig ist und Infrastruktur wird nur ersetzt, wenn es gar nicht mehr anders geht. Gekocht wird einfach, aber exzellent mit regionalen Produkten – was man zu schmecken vermeint – und die Gastfreundschaft ist persönlich und kommt von Herzen. Nachhaltiger kann ein Beherbergungsbetrieb kaum sein und nachhaltiger kann man auch kaum Werbung machen für die Val Müstair.
God da Tamangur
Zwischen Lü in der Val Müstair und S-charl im Unterengadin erstreckt sich das Gebiet Tamangur. Was nach einer mythischen Märchenlandschaft klingt, ist in Realität eine Moor- und Arvenlandschaft, deren Zentrum aus dem God da Tamangur besteht (God heisst Wald), dem höchsten geschlossenen Arvenwald Europas – ein Superlativ, den auch die Gemeinde Zuoz mit dem God Giavagl in der Val Chamuera für sich beansprucht. Im Wald, der eine Fläche von 86 Hektaren umfasst und seit 2007 ein registriertes Naturwaldreservat und damit geschützt ist, sollen die ältesten Bäume an die 800 Jahre alt sein. Unter Schutz gemäss dem Rothenturm-Artikel steht seit 1996 auch das Moorgebiet Tamangur, das vom Bach Clemgia bewässert wir. Es zählt zu den Schweizerischen «Moorlandschaften von besonderer Schönheit und nationaler Bedeutung».
Der God Tamangur fasziniert nicht nur Wandersleute, sondern auch Künstlerinnen und Künstler. So wurden den von Wind und Wetter gezeichneten Bäumen – im Winter kann es hier durchaus –30 Grad werden –, die als Symbole für Hartnäckigkeit, Überlebenswillen, Stärke sowie den Widerstand gegen das an Bedeutung verlierende Rätoromanisch gelten, schon Gedichte, Lieder und ein ganzes Buch gewidmet.
Die Wanderung durch das Gebiet Tamangur ist 14 Kilometer lang. Richtung Norden sind 460 Meter Aufstieg und 560 Meter Abstieg zu bewältigen. Einkehren kann man in den bewirteten Alpen Astras-Tamangur und Champatsch. Ein Juwel am Wegrand ist ausserdem die Alp Tamangur Dadora. Die frühe, in ihrer Typologie nur noch selten zu sehende Form der Genossenschaftsalp mit Stafel kann gegenwärtig dank eines Crowd-Foundings wieder neu aufgebaut werden, nachdem sie in den Jahren davor mehr und mehr zerfallen ist.
Am nächsten Morgen gehts weiter nach Tschierv ins Center da Biosfera, wo wir von Geschäftsführer David Spinnler wissen wollen, ob sich Nachhaltigkeit und Tourismus nach seinem Dafürhalten eigentlich grundsätzlich miteinander vertragen.
«Ein Tourismus, der natur- und kulturnah ist, verträgt sich absolut mit einem intakten Naturraum. Als Naturpark stossen wir nachhaltige Projekte in den Bereichen Natur und Landschaft, Wirtschaft und Gesellschaft an. Wenn diese Projekte Fahrt aufnehmen und die Leute, die hier leben, mitmachen, tun wir der Nachhaltigkeit auch längerfristig einen Gefallen.»
Und was für Projekte sind das im Tourismusbereich? «Im Winter suchen wir zum Beispiel den Dialog mit den Schneeschuh- und Skitourenwanderern. Wir zeigen ihnen etwa durch ein Fernrohr Steinböcke und erklären, wo sie problemlos ihre Tour geniessen können und wo sie besser nicht durchgehen sollen, damit die Wildtiere nicht gestört werden. Oder wir haben eine Anlage für Lawinentrainings initiiert, wo die Gäste unter anderem lernen können, sich risikoarm im Gelände zu bewegen. Im Val Vau haben wir den Wiederaufbau einer Trockenmauer angestossen und an den Südhängen zwischen der Landesgrenze und Sta. Maria setzen wir uns zusammen mit Land- und Forstwirten und mithilfe von weidenden Schafen und Ziegen dafür ein, dass die Flächen nicht verwalden, denn nur wenn sie offen bleiben, kann der dort beheimatete Felsenfalter überleben, der vom Aussterben bedroht ist. Viele Gäste kommen extra wegen der intakten Natur in die Val Müstair. Daran kann man gut sehen, dass Nachhaltigkeit und Tourismus einander sogar begünstigen können.»
Welche Rolle spielt die Biosfera bei der zukünftigen Entwicklung des Tals? «Unser Auftrag ist es einerseits, nachhaltige Projekte anzuschieben und dafür Partner zu suchen, die mitmachen wollen. Wir arbeiten ja zum Beispiel auch mit der Landwirtschaft zusammen. Im Moment sind wir daran, zusammen mit interessierten Bauern die Getreidesammelstelle und -trocknungsanlage wieder aufzubauen. Der Getreideanbau hat hier im Tal eine lange Tradition und soll dadurch wieder möglich werden. Andererseits beraten wir die Gemeinde, wie sie grössere Projekte nachhaltig realisieren kann. Das ist eine Vorgabe des Masterplans, die ich hervorragend finde.»
Handweberei Tessanda
Eines der vielen Schmuckstücke in der Val Müstair ist zweifelsohne die Handweberei Tessanda in Sta. Maria. Seit bald 100 Jahren werden hier Stoffe von Hand gewebt und Produkte daraus geschneidert. 1928 gegründet gibt Tessanda Münstertalerinnen Arbeit und die seltene Möglichkeit, eine anerkannte Ausbildung als Handweberin zu absolvieren. 15 Mitarbeitende und eine Lernende arbeiten in der Tessanda, einem reinen Frauenbetrieb. Es braucht viele Jahre Erfahrung, um einen Webstuhl für komplizierte Muster einzurichten. Die Arbeit erfordert hohe Konzentration und ist körperlich anspruchsvoll. Produziert und vor Ort oder im Webshop verkauft werden hochwertige Produkte aus Naturgarnen für Bad, Küche und Esszimmer, aber auch Taschen, Etuis, Foulards und Teppiche. Traditionelle Web-Muster aus der Region bleiben in den Produkten von Tessanda erhalten oder werden neu und modern interpretiert. Besucherinnen und Besucher können überdies den Weberinnen bei der Arbeit an den alten Webstühlen zusehen. Auf Voranmeldung finden ausserdem informative Führungen durch die Web-Räume statt.
Gegenwärtig verfolgt Tessanda zusammen mit der Biosfera Val Müstair das Projekt, wieder wie vor 100 Jahren in der Val Müstair Flachs nach ökologischen Kriterien anzubauen. Flachsfelder liefern nicht nur Garn, sie sind auch wertvoll für die Förderung der Biodiversität.
Handweberei Tessanda, Plaz d’Ora 14, 7536 Sta. Maria, www.tessanda.ch
Haben Sie persönlich eine Vision für die Val Müstair? «Wenn dieses Tal überleben soll in dem Sinne, dass hier hoffentlich weiterhin etwa 1500 Menschen zuhause sind, dann ist das Konzept der Nachhaltigkeit ein hervorragendes Business, eine Nische und gleichzeitig eine Überzeugung, mit der das Tal sich gut entwickeln kann. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.»
Und damit sind wir am Ende dieser Reise angekommen und verlassen die Val Müstair wandernd über den Ofenpass. Klar ist jetzt, dass sich dieses Tal definitiv und ernsthaft um Nachhaltigkeit bemüht. Klar ist aber auch, dass bis zum nachhaltigen Vorzeige-Tal noch Schritte zu gehen sind. Den Durchgangsverkehr nach Italien wird man hier wohl nie los, doch vielleicht lässt er sich mit baulichen Massnahmen noch ein wenig zähmen. Wichtig scheint uns aber vor allem, dass eine Mehrheit der Bevölkerung von den Vorteilen einer nachhaltigen Entwicklung überzeugt werden kann und diese mit allen Konsequenzen mittragen mag. Naturliebende Touristinnen und Touristen hingegen muss man nicht mehr überzeugen, die sehen rasch, wie schön und vielschichtig sich Nachhaltigkeit auswirkt.