Von oben herab
In der Schweiz stehen Hunderte von Aussichtstürmen. Wir haben einige davon herausgepickt: ganz kleine, recht originelle, schöne und hässliche – und alle sind einen Ausflug wert.
Im Kanton Schwyz geisterte schon länger die Idee herum, einen Aussichtsturm zu bauen; die schöne Gegend mit imposanten Bergpanoramen, lieblichen Seen, Moorlandschaften und hübschen Siedlungen ist schliesslich geradezu prädestiniert dafür. Der Kantonsförster befand, ein solcher Turm müsse am attraktivsten Ort der Region stehen, und das ist wohl der Natur- und Tierpark Goldau. Dort wurde die Idee gern aufgenommen. Der Tierpark entwickelte ein Projekt mit dem Bündner Star-Architekten Gion A. Caminada, und da die Schwyzer Kantonalbank 2015 ihr 150-Jahr-Jubiläum feierte und aus diesem Anlass ein bedeutendes lokales Projekt unterstützen wollte, war auch der Hauptsponsor bald gefunden.
Caminadas Entwurf stellt alle vergleichbaren Bauten in den Schatten. Für den Turm liess sich der Architekt von Alberto Giacomettis «Schreitendem Mann» inspirieren: Der Turm ist quasi eine gigantische Huldigung dieser Plastik, die zu den wertvollsten der Kunstgeschichte gehört. Die zweibeinige, rund 30 Meter hohe Konstruktion symbolisiert die Verbindung von Mensch und Natur. Diesen Eindruck verstärkt auch die Materialisierung: Der Turm besteht mit Ausnahme des Fundaments ganz aus Holz, und zwar aus solchem aus der Region. Die tragenden Elemente wurden von lokalen Holzbaufachleuten aus Fichte gefertigt, eingekleidet ist der Turm in unbehandelte Weisstanne. Damit fügt sich das Bauwerk, das 2018 mit dem Prix Lignum Sonderpreis Schweizer Holz ausgezeichnet wurde, ideal in die wildromantische Umgebung des Tierparks ein.
Und auf diese hat man natürlich einen einmaligen Ausblick, wenn man die 144 Stufen bis ganz oben überwunden hat. Interessanterweise steht der Turm keineswegs auf dem höchsten Punkt der Gegend, von dem aus man alles überblicken und weit in die Ferne schauen könnte, sondern in einem von Bergen umgebenen Tal. «Und trotzdem geniesst man von hier aus eine ganz besondere Aussicht», sagt Joe Michel, Leiter Bau und Infrastruktur des Parks. Man kann ihm nicht widersprechen. Der Blick schweift über den Zuger- und den Lauerzersee, leicht lässt sich nachvollziehen, woher das Geröll beim Goldauer Bergsturz von 1806 kam und welche Katastrophe es anrichtete, man sieht viel Natur – und ist weit weg von allem. Schön!
Zugegeben: Der Esterliturm ist keine Zierde. Die 48 Meter hohe, pfeilgerade Konstruktion aus Stahlbeton würde sich auch gut als Überwachungsposten im innerkoreanischen Grenzgebiet machen. Doch viel wichtiger als sein Aussehen ist bei einem Aussichtsturm natürlich die … Aussicht! Und die ist vom Esterliturm aus schlicht grandios. Bei gutem Wetter sieht man von hier aus über bzw. in 18 Kantone der Schweiz und bis nach Baden-Württemberg.
Keine Frage: Der Aufstieg über die 253 Stufen lohnt sich – so sehr, dass ein gewisser Kurt Hess aus Unterkulm AG 2007 den Aufstieg 413-mal innerhalb von 24 Stunden hinter sich brachte und damit einen Weltrekord im Treppensteigen aufstellte. Auch wenn die enge Treppe zu einem schwindelerregenden Karussell-Effekt führt. Überhaupt ist der Ausflug zur Plattform absolut empfehlenswert. Ab Bahnhof Lenzburg ist man bis zum Esterliturm 90 Minuten lang zu Fuss unterwegs. Der Weg führt durch einen traumhaft schönen Wald mit Weihern, kleineren Sehenswürdigkeiten und unterschiedlichen Forsten vom stufigen Misch- bis zum Sumpfwald. Beim Parkplatz packt man sich am besten einen der kleinen Leporellos, die dort aufliegen, um sich über die eindrückliche Vielfalt des Grüns ins Bild zu setzen.
Der brachiale Esterliturm wurde übrigens 1974 errichtet. Er ersetzte eine ältere Aussichtsplattform, die um 1900 entstanden war; damals hatte man nach einem Kahlschlag erkannt, welch spektakuläres Panorama sich von dieser Gegend aus entfaltet. Der heutige Turm besteht aus 19 aufeinander gestapelten, weitgehend identischen Betonrohrelementen von je 2,5 Metern Höhe. Pragmatischer geht es kaum.
Die Schweiz ist ein bemerkenswertes Land. Zum Beispiel wegen ihrer Kleinräumigkeit: Vom Zürcher Stadtzentrum aus erreicht man in kürzester Zeit ländliche Gegenden, wo Kühe weiden und die Uhren – und auch die Menschen – anders ticken. Ein Katzensprung in eine andere Welt ist zum Beispiel eine Reise über Dietikon ins aargauische Widen. Dort befindet sich der Hasenberg, ein beliebtes Naherholungsgebiet der Bevölkerung der Mutschellenregion.
Auf dem Hasenberg stand bereits seit 1904 ein Turm; weil er marode und kein Geld für eine Sanierung vorhanden war, wurde er 1956 abgerissen. Seither gab es immer wieder Bestrebungen, einen neuen Turm zu errichten. 2014 nahm der Gemeinderat von Widen den Bau eines neuen Hasenbergturms in seine Legislatur-ziele auf, «um der Bevölkerung die Schönheit und die Attraktivität unserer Region bildlich vor Augen zu führen». Eine Arbeitsgruppe wurde gegründet, und Student:innen der Berner Fachhochschule für Architektur, Bau und Holz in Biel arbeiteten sechs Turmvorschläge aus. Den Wettbewerb gewann das Projekt «Triangolo» von Tanja Stücheli und Joel Minder.
Etwas länger dauerte es, bis die Finanzierung gesichert war. Die ganze Region zeigte sich spendabel, von der öffentlichen Hand über Unternehmen bis zu Privatpersonen. Am 1. August 2021 konnte der 40 Meter hohe und 110 Tonnen schwere Turm aus Holz und Stahl eingeweiht werden. Er sieht richtig gut aus, ist aber nichts für Leute mit Höhenangst; die Treppenstufen bestehen aus Gittern, und daher eröffnet sich unter einem beim Hochsteigen ein stetig grösser werdender Abgrund. Allfällige Ängste zu überwinden lohnt sich aber auf jeden Fall: Von der Aussichtsplattform auf 35 Metern geniesst man einen sagenhaften Ausblick, der auch wieder von der Kleinräumigkeit der Schweiz erzählt. Das weltberühmte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau liegt ebenso in Sichtweite wie der Prime Tower in Zürich.
Wann ist ein Turm ein Turm? Machen wir es uns für einmal einfach: sobald er als solcher bezeichnet und in einschlägigen Turm-Verzeichnissen im Internet aufge-führt wird. Insofern qualifiziert sich auch der Beobachtungsturm in der Aue Chly Rhy Rietheim für unsere Turm-Selektion – auch wenn er insgesamt nur schlappe 9 Meter hoch ist und die Aussichtsplattform gerade einmal 5 Meter über Boden liegt. Ein ideales Ausflugsziel also für alle, die zwar unter Höhenangst leiden, aber trotzdem mal damit angeben wollen, sie seien auf einem richtigen Turm gewesen!
Abgesehen davon lohnt sich die Reise nach Rietheim sowieso. 2014 und 2015 wurde hier ein 35 Hektar grosses Auenschutzgebiet renaturiert und der um 1920 zugeschüttete Chly Rhy – ein Seitenarm des Rheins – wieder freigelegt. Entstanden ist so ein dynamischer Naturraum, der von Leben nur so strotzt: Hier wirken Biber, laichen Unken, zirpen Kröten, flattern Eisvögel und blühen Orchideen.
Die Aue ist ein Paradies für Biolog:innen und Hobbyornitholog:innen – und deshalb braucht es auch den Aussichtsturm: Von der gut geschützten Plattform aus, die sich auf einer Halbinsel beim grössten Weiher befindet, blickt man nicht auf ferne Bergwipfel, sondern auf alles, was in der Nähe kreucht und fleucht. Damit sich die Tiere nicht gestört fühlen, wurde der Turm in einen Mantel aus lebenden Weiden gefasst. Für einmal eine sympathische Camouflage. Entwickelt hat die Konstruktion die Baukunstgruppe «Sanfte Strukturen», die beim Bau Unterstützung von Schulklassen aus der Gegend erhielt.
«Schreiben Sie bloss nicht über diesen Turm – sonst kommen noch mehr Leute her», seufzt eine Mutter, die mit einer Freundin und einigen Kindern am Fuss des Randenturms Maiskolben grilliert. Man kann verstehen, dass sie dieses kleine Paradies nicht mit zu vielen anderen teilen will. Aber die journalistische Pflicht fordert Aufrichtigkeit, und deshalb darf der Randenturm, der auch Chläggliblick genannt wird, hier nicht unerwähnt bleiben. Er ist nämlich ein richtiges Bijoux.
Bereits 1882 wurde auf dem Randen ein 12 Meter hoher Aussichtsturm in Stahlfachwerkbauweise errichtet. Er galt als der älteste Stahlfachwerkturm der Schweiz, doch sein Zustand war irgendwann so schlecht, dass kein Weg an einem Ersatzneubau vorbeiführte. Der neue Turm, Ende 2014 in Betrieb genommen, wurde von Holzbau-Ingenieur Michael Hübscher, Bauökonom Raoul Müller und Architekt Patrick Birri entworfen. Die 19 Meter hohe Konstruktion aus Stahl und Lärchenholz ist einem Baum nachempfunden: Die Aussichtsplattformen und Treppen bilden sozusagen das Geäst um einen kräftigen Stamm. Die 99 Stufen nimmt man auf diesem schönen Bauwerk, das immer wieder zum Innehalten ein-lädt, quasi im Vorbeigehen.
Und dann die Aussicht! Tut uns leid, liebe eingangs erwähnte Mutter, aber wer nicht herkommt und sich diese volle Packung Fernsicht reinzieht, ist nun wirklich selber schuld. In jede Himmelsrichtung präsentiert sich ein gänzlich anderes Bild, und man kann sich kaum entscheiden, welches das schönste ist. Idealerweise ist der Turm von Siblingen aus zu Fuss in weniger als einer Stunde erreichbar – und finden sich in seiner unmittelbaren Umgebung ausreichend Feuerstellen sowie ein toller Spielplatz.
Von Paris bis Babel weiss man: Ein Turm macht etwas her und mächtig Eindruck. Und so entschied sich der Gewerbeverein Amriswil 2011, anlässlich seines 100-Jahr-Jubiläums der Gemeinde einen Turm zu spendieren. Dieser thront seither auf dem Schollenberg hoch über dem Dorf, für alle gut sicht- und mit ein bisschen Ortskenntnis auch gut erreichbar. Wenig erstaunlich, wurde das 2012 erstellte, etwas über 19 Meter hohe Bauwerk von einem einheimischen Unternehmen entworfen, dem Ingenieurbüro Schöni.
Markant am Turm ist seine sich nach unten verjüngende Form; die interessante und ästhetisch ansprechende Konstruktion besteht hauptsächlich aus Fichten- und Lärchenholz. Aber wie steht es denn um die Aussicht, die ja bei einem Aussichtsturm letztlich Sinn der Sache ist? Man will dem Gewerbeverein natürlich nicht zu nahe treten, aber für einmal ist der Turm selber eher eine Reise wert als das Panorama, das er einem eröffnet. Natürlich sieht man von der Plattform aus den Säntis, und auch ein schmaler Streifen Bodensee ist auszumachen. Aber der Wow-Effekt ist grösser, wenn man vor dem Turm, statt auf ihm steht.
Zu den besonderen Attraktionen der an baulichen Sensationen nicht gerade armen Loire-Gegend zählt das Treppenhaus von Schloss Chambord. Man vermutet, dass die zur Bauzeit einmalige Konstruktion auf eine Idee von Leonardo Da Vinci zurückgeht. Der Gag jener Wendeltreppe: Sie ist doppelläufig, besteht also eigentlich aus zwei Treppen, die wie bei der Doppelhelix übereinander angeordnet sind. Ein Prinz konnte die eine Treppe hochgehen, ein zweiter die andere hinuntersteigen – und die beiden begegneten einander nie. Die lästige Frage, wer dem anderen Platz machen musste, war damit elegant umschifft.
Exakt dasselbe Prinzip wurde auch beim 2006 gebauten, 38 Meter hohen Wiler Turm in Bronschofen genutzt. Man sieht das zwar auf den ersten Blick nicht, wenn man vor der Anlage steht, aber der Turm verfügt über zwei Treppen – eine führt hoch, die andere runter. Die Lasten werden über drei X-förmige Stützen abgetragen. Die gesamte imposante Konstruktion, die der Waadtländer Holzbauingenieur Julius Natterer entwarf, besteht aus einheimischem Holz: die Stützen aus Douglasien und die Treppenstufen aus Weisstanne.
Der Weg über die 189 Stufen ist für Bauinteressierte ein Vergnügen, denn die zunächst leicht rätselhafte Konstruktion entschlüsselt sich bei genauer Betrachtung und mit etwas Vorstellungskraft nach und nach. Oben angekommen, wird man erst noch mit einem grossartigen Rundblick belohnt – er reicht von den Ös-terreicher Alpen bis ins Berner Oberland.
Der Tessiner Architekt Mario Botta ist bekanntlich ein freundlicher Mensch, der sich gern einmal für eine gute Sache engagiert. Deshalb steht auf dem Berg Moron im Berner Jura – genauer: in der Gemeinde Malleray – ein Aussichtsturm nach seinen Plänen.
Was ein Turm mit einer guten Sache zu tun hat? Nun, 1996 entstand die Idee, dass die Maurer- und Strassenbaulehrlinge der französischen Schweiz und der Maurerlehrhalle Sursee auf dem Moron einen Turm errichten – als Gemeinschaftswerk, interessante Herausforderung und zur Propagierung des Berufs. Mario Botta war von der Idee so angetan, dass er sich kostenlos am Projekt beteiligte. 2000 begann die Umsetzung seiner Pläne, und bis zur Eröffnung des Turms 2004 leisteten etwa 700 Lehrlinge insgesamt 65’000 Arbeitsstunden.
Der grosse Einsatz hat sich gelohnt: Der rund 30 Meter hohe Turm aus gemeis-seltem Jurakalkstein dürfte einer der schönsten überhaupt sein. Die 209 Treppenstufen erklimmt man besonders gern, und hat man sie bewältigt, wird einem eine umwerfende Aussicht geboten. Der Blick schweift über die erste Jurakette hinaus bis zum Alpenbogen, vom Säntis bis zum Montblanc, bis in die Vogesen und den Schwarzwald. Oder er würde schweifen, denn zurzeit ist der Turm leider gesperrt, weil sich 2022 ohne erkennbaren Grund Stufen lösten und in die Tiefe fielen. Aus dem Schadenfall wurde ein Rechtsfall, der noch immer hängig ist. Der Turm selbst soll aber erhalten und in zwei bis drei Jahren wieder eröffnet werden. Nehmen Sie ihn also auf die Liste jener Ausflüge, auf die Sie sich freuen dürfen!
Ein Reischen zu einem Aussichtsturm – das klingt nach Outdoor-Aktivität. Tatsächlich gibt es aber auch einen Turm mit hohem Erlebniswert im Innern eines Gebäudes: im Zoo Zürich. 2003 eröffnete dieser mit der Masoala-Halle seine wohl grösste Attraktion. Im 11’000 m2 umfassenden Mini-Regenwald-Ökosystem können die Besucher:innen Tiere in einem Lebensraum beobachten, der weitgehend ihrem natürlichen Umfeld in Madagaskar entspricht. Anlässlich des Zehn-Jahr-Jubiläums der Halle 2013 erweiterte der Zoo deren Infrastruktur um den Baumkronen-Weg, zu dem auch zwei Stahltürme von 10 und 18 Metern Höhe gehören.
Seither kann man den Masoala-Regenwald über den Wipfeln der exotischen Pflanzen begehen. Der Regenwald ist ein dynamisches System. Er wächst in die Höhe, und mittlerweile spielt sich viel im oberen Bereich ab. Daher entstand die Idee des Baumkronen-Wegs. Der beliebte Pfad eröffnet den Besuchenden zum Beispiel auch freie Sicht auf Bäume, die nur im oberen Bereich blühen – sowie eine Aussicht auf einen Dschungel, wie sie in der Schweiz fraglos einmalig ist. Allerdings muss man dafür ein paar Schweissperlen in Kauf nehmen: Unter dem Dach der Halle steigt die Temperatur deutlich an, im Sommer bis auf 42 Grad, und deshalb warnt ein Schild am Treppenabsatz: «Vorsicht – auf dem Aussichtsturm kann gesundheitsgefährdende Hitze herrschen». Kein Witz, das!
Gestaltet wurden der Weg und die Türme von den Landschaftsarchitekten Günther Vogt und Lars Ruge, die bereits die Innengestaltung der gesamten Halle verantworteten. Dass sie sich bei ihrem Konzept für die neue Anlage von einem Insektenkokon inspirieren liessen, tut der Sache gut: Die hohen Türme werden von Lianen und Aufsitzerpflanzen umschlungen und fügen sich unauffällig in den Regenwald ein.