Zeitenwenden
Es ist Krieg. Russland überfällt die Ukraine. Und schon ist ein politisches Schlagwort geboren: Zeitenwende! Ein Wort von so enormem Gewicht, dass es begeistert und ungeprüft […]
Es ist Krieg. Russland überfällt die Ukraine. Und schon ist ein politisches Schlagwort geboren: Zeitenwende! Ein Wort von so enormem Gewicht, dass es begeistert und ungeprüft weitergereicht wird. Was hat es damit auf sich?
Meine Verbündeten zur Klärung der Frage stehen am Wegrand im schaffhausischen Buchberg. Es sind die Marchlinden, deren Silhouette noch vor zwanzig Jahren einen makellosen Halbkreis beschrieb und von denen jetzt, neben einer Neugepflanzten, nur die grössere noch steht. In ihren 500 Jahrringen bewahrt sie Grossereignisse, die wir fundamental nennen. ‘Wenn die reden könnten’, sagen die Menschen vor solchen Bäumen. Sie können. Man muss nur nachschlagen, was in den Jahrringen steht.
Die erste Marke ist der Jahrring von 1520: Reformation. Die zweite ist 1648: Westfälischer Friede, die Landkarte Europas wird verändert und die Schweiz geht mit «voller Souveränität» und Kaiser-los nach Hause. 1798: Französische Revolution, Napoleon kreiert eine Schweiz aus 22 Kantonen. 1815: Wiener Kongress, die Landkarte Europas erhält wiederum neue Namen und Farben und die Schweiz wird «immerwährend und bewaffnet neutral». 1848: Die zerstrittene «Ortschaften-Schweiz» wird Bundesstaat. 1914: Erster, 1939: Zweiter Weltkrieg, mit einer Schweiz unterschiedlicher Neutralitäten. Danach war Frieden.
Der Baum hat gesprochen, wir können urteilen. Sechs dieser Ereignisse waren tatsächliche Zeitenwenden, umwälzend für Europa und weit darüber hinaus. Gilt das auch für den Überfall des Herrn Putin auf die Ukraine? Nun, was und wie es geschehen ist, macht – als sei die Erderwärmung nicht genug – unser aller Zukunft aufs höchste unsicher. Damit ist es eine Zeitenwende. Sollten wir danach jedoch so geschäftig tun, als hätte es ihn nicht gegeben, ist es eine noch verheerendere. Halten wir uns vorerst an Günter Eichs Vers: «Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!» Er galt im Grunde schon immer.